Eigentlich bin ich nicht besonders bibelfest. Aber diese Passage aus dem 90. Psalm hat es mir angetan. Dort heißt es: „Unser Leben währet siebzig Jahre, und wenn's hoch kommt, so sind's achtzig Jahre, und wenn's köstlich gewesen ist, so ist es Mühe und Arbeit gewesen.“ Vermutlich werden die meistens Menschen in der westlichen Welt diese Ansicht nicht teilen. Denn normalerweise vermeiden wir Mühe und Anstrengung, wo immer es geht. Der Radler auf dem Foto scheint allerdings keine Mühe zu scheuen. Bis hoch aufs Matterhorn wird er wohl nicht radeln, aber am Abend müde ins Bett fallen, stolz auf seine Leistung. Was sagt uns das und hat das etwas mit Nachhaltigkeit zu tun?
Die Bibelforschung bleibt ungenau hinsichtlich der Entstehungszeit der Psalmen. Genannt wird der Zeitraum 6. bis 2. Jahrhundert vor Christi Geburt. Für den Inhalt der zitierten Passage ist das weniger bedeutsam, denn die Tatsache, dass das menschliche Leben für die meisten Menschen zu nicht unerheblichen Teilen aus Mühe und Arbeit besteht, trifft für weite Teile der Menschheitsgeschichte zu. Viele bahnbrechende Entdeckungen und Erfindungen waren und sind nicht zuletzt deshalb gemacht worden, um das Ausmaß der Mühe zu verringern: der Pflug, das Rad, Werkzeuge, Motoren, Automaten…. Sie trugen und tragen dazu bei, die Mühsal der Existenzsicherung zu reduzieren. Spätestens seit zunächst Tiere und später Motoren in der Lage waren, menschliche Anstrengung zu ersetzen, werden sie anstelle lebendiger menschlicher Arbeit in der Produktion unserer Lebensmittel eingesetzt.
Auf der sozialen Ebene ist parallel zu dieser Entwicklung zu beobachten, dass sich immer wieder Menschen mit Erfolg darum bemühten und bemühen, zumindest sich selbst von den Mühen schwerer körperlicher Arbeit zu befreien und sich stattdessen lieber auf Kopfarbeit zu beschränken, sei es als Priester oder Heilkundige, sei es als Wissenschaftler, Politiker oder Wirtschaftslenker. Damit soll nicht gesagt sein, dass Kopfarbeit weitgehend mühelos vonstatten geht, wohl aber, dass die Vermeidung körperlicher Mühe nie allen Menschen gleichermaßen zugute kam und kommt. So geschah es, dass die Teilung von Kopf- und Handarbeit sowohl Motor der technischen Entwicklung als auch der Herausbildung von Herrschaft wurde.
Die Vermeidung von Anstrengung mit Hilfe technischer Gerätschaften wird dabei fast immer begleitet von einem Zuwachs an Produktivität. Arbeit wird nicht nur leichter, sondern auch ergiebiger, wenn sie mit immer leistungsfähigeren technischen Hilfsmitteln ausgeübt wird. Werkzeuge und Maschinen mindern die Arbeitlast, erhöhen die Arbeitsleistung und führen dazu, dass für denselben Output immer weniger Menschen erforderlich sind. Der zunehmende Ersatz von Menschen durch Maschinen und die Trennung von Hand- und Kopfarbeit bewirken aber auch, dass die arbeitenden Menschen nicht mehr selbst Eigentümer der sie ersetzenden Maschinen sind, sondern dass die Produktion von den Eigentümern der Maschinen beherrscht wird, an denen die arbeitenden Menschen nur noch als weisungsgebundene Arbeitnehmer tätig sind. Die Technisierung der Produktion geht einher mit der Herausbildung von privatem Kapitaleigentum, das die Verfügungsmacht für sich allein beansprucht. Eine immer schiefer werdende Verteilung von Macht und Vermögen ist die Folge, national wie international.
Heute sind es Mechanisierung, Automatisierung und Digitalisierung, die die arbeitenden Menschen von körperlicher Mühe entlasten, dabei aber andere, insbesondere mentale Formen von Belastung hervorrufen. Immer mehr Menschen verbringen ihren Arbeitstag im Sitzen vor einem Computerbildschirm. Körperlich werden fast nur noch die Augen und Hände angestrengt, mental jedoch nehmen die Belastungen trotz oder gerade wegen der benutzten technischen Hilfen zu. Sog. Zivilisationskrankheiten sind oft die Folge.
Diese Entwicklung geht mit dem Wunsch nach ausgleichender körperlicher Betätigung einher. Immer neue Sportarten werden entwickelt und finden Anhänger. Und in der Freizeit wird dann nahezu keine Mühe gescheut, vom Besteigen des Mount Everest bis zum Einhandsegeln über den Atlantik oder für weniger Betuchte vom Jogging bis zum Moutainbiken. Es kann gar nicht anstrengend genug sein und wenn die Mühe geschafft ist, empfindet man Genugtuung und Stolz, manchmal sogar weltweiten Ruhm.
Die Entlastung von körperlicher Anstrengung im Arbeitsprozess geht zumeist nicht einher mit einer
Reduzierung der Arbeitszeit. Zwar gibt es, in Tarifauseinandersetzungen erkämpft, heute keinen 12-Stunden-Tag mehr, sondern für Vollzeitkräfte eine tariflich vereinbarte Arbeitszeit von
durchschnittlich 37,7 Stunden pro Woche. Hinzu kommt nicht selten ein wechselndes Maß an Überstunden. Insgesamt wird trotz Produktivitätszuwachs nicht weniger gearbeitet, sondern mehr produziert,
nicht unbedingt weil die arbeitenden Menschen das wollen, sondern weil Wirtschaftswachstum als Lebenselixier der Wirtschaft angesehen wird.
Einmal abgesehen von sportlichen Freizeitvergnügen, in den Mühe und Anstrengung geradezu gesucht werden, setzt sich im Lebensalltag der Menschen wie im Arbeitsalltag immer mehr der Wunsch nach einer Reduzierung der Mühen durch. Fertiggerichte statt selbst kochen, Putzroboter statt Feudel, diverse weitere elektrische Haushaltsgeräte…. Spotify statt musizieren, Couch statt Spaziergang. Zusammen genommen kann man der Prozess der Zivilisation als einen Prozess der Verbequemlichung buchstabieren.
Hier spätestens kommt die Nachhaltigkeit in den Blick. Denn all das ist nicht zu haben, ohne dass immer mehr Materialien und Energie aufgewendet werden. Es sind nämlich durchweg Materialien, die der Natur entnommen werden, vielfach Naturvorräte darstellen, die weltweit begrenzt verfügbar sind. Motoren, Automaten und Roboter stellen selbst Ansammlungen fossiler Vorräte dar und laufen unter Einsatz von fossilen Brennstoffen. Nur ein sehr begrenzter, wenn auch wachsender Teil der so genutzten Stoffe wächst nach oder lässt sich durch Kreislaufführung mehrfach nutzen. Viele Stoffe (vor allem Metalle und die sog. seltenen Erden) können überhaupt nur unter Inkaufnahme erheblicher ökologischer und sozialer Schäden der Natur entnommen werden.
Energie stammt immer noch zu erheblichen Teilen aus Quellen, die entweder begrenzt verfügbar sind, hochgefährlich oder beides. Und grüne Energie bedarf ebenfalls des Einsatzes fossiler Vorräte. Und weil die Entlastung von Mühe und Anstrengung nicht dazu genutzt wird, weniger zu arbeiten und zu produzieren, wächst die Überbeanspruchung der Natur immer weiter.
Immer mehr Bequemlichkeit ist also nur um den Preis einer nicht zukunftsfähigen Wirtschaftsweise zu haben. Selbst wenn es gelingt, fossile Rohstoffe durch nachwachsende zu ersetzen oder in eine Kreislaufführung zu bringen, muss unter Nachhaltikeitsgesichtspunkten der Trend zu immer weniger Mühe gestoppt, ja sogar umgekehrt werden. Nicht nur der Trend zum Immer-Mehr, sondern auch der Trend zum Immer-Bequemer sind nicht nachhaltig, von den sozialen Verwerfungen, die sie erzeugen, einmal ganz abgesehen.
Aber es gibt Auswege: Der eine heißt weniger arbeiten und produzieren und damit weniger Materialien verbrauchen. Es gibt sinnvolle Beschäftigungen jenseits der warenproduzierenden Arbeit! Der andere Ausweg heißt Umkehr des Ersatzes von Arbeit durch Kapital. Wenn wir Gegenstände reparieren, anstatt sie durch neue zu ersetzen, wenn sie kaputt sind, wenn wir Dinge mit unserer Körperkraft erledigen, anstatt mit motorgetriebenen Maschinen (z.B. radeln statt autofahren, unseren Strom selbst erzeugen), leben wir nachhaltiger. Und der dritte Ausweg liegt in gemeinsamem Tun. Die gemeinschaftliche Erzeugung von Lebensmitteln in Hausgärten und auf städtischen Grünflächen ersetzt den Transport von weither und schafft lokale Gemeinschaft.
Lasst uns wieder lernen, wie es im Psalm heißt, die Köstlichkeit von Mühe und Arbeit zu erkennen und zu genießen. Was wir mit eigener Kraftanstrengung geschafft haben, macht nicht nur im Sport zufrieden, auch beim mit den eigenen Händen reparierten Kühlschrank oder dem selbst gekochten Essen stellen sich Glücksgefühle ein, heutzutage sogar jenseits der 70 bzw. 80 Jahre, die das Leben normalerweise währt. Probiert es mal aus!