Es gibt keine Maikäfer mehr....

 

So heißt ein 1973 veröffentlichtes Lied von Reinhard Mey. Damals waren tatsächlich die Maikäfer durch Versprühung von DDT in den Wäldern weitgehend ausgerottet. Heute gibt es sie wieder, auch wenn insbesondere ihre Larven weiterhin als „Schädlinge“ angesehen werden.Viele Mitmenschen halten Maikäfer und andere Arten wie z.B. Wespen, Stechmücken und Schmeißfliegen für überflüssig. Auf der anderen Seite beschwören Experten die Dringlichkeit des Artenschutzes weltweit. Auch wenn ich beim Thema wieder interessierter Laie und kein Fach-Experte bin, möchte ich mit der Brille des Ökonomen einen Blick aufs Thema werfen.

 

 

Die nicht-menschliche Natur ist ein äußerst komplexes System, in dem alles miteinander zusammenhängt und von dessen dauerhaftem Funktionieren nicht zuletzt der Mensch als Teil und zugleich Mitgestalter des Systems abhängig ist. Denn auch wenn wir Menschen uns über andere Lebewesen erheben, weil wir dazu fähig sind, die Welt nach unseren Vorstellungen tiefgreifend umzuformen, ist diese grundlegende Abhängigkeit unaufhebbar. Wir atmen die Luft, die die Erde dank ihrer Atmosphäre umgibt, wir entnehmen der Natur unsere Nahrungsmittel, wir nutzen auf vielfältige Art diverse Bestandteile der Erdkruste. Nicht zuletzt tragen wir Abfälle in die umgebende Natur ein, oft ohne uns darum zu kümmern, ob sie dort schadlos aufgenommen und in neue nutzbare Stoffe umgewandelt werden können, wie es in den nicht-menschlichen Naturkreisläufen selbstverständlich geschieht.

Die Wissenschaft, die sich mit den Zusammenhängen und Wechselwirkungen zwischen den Organismen und der unbelebten Natur befasst, ist die Ökologie. Ihr Name geht zurück auf den Biologen Ernst Haeckel, der 1866 eine erste Definition formulierte: „Unter Oecologie verstehen wir die gesammte Wissenschaft von den Beziehungen des Organismus zur umgebenden Aussenwelt, wohin wir im weiteren Sinne alle „Existenz-Bedingungen“ rechnen können.“ (Generelle Morphologie der Organismen… Band 2, Berlin 1866, S. 286) Im Laufe der Zeit entwickelte und differenzierte sich das Fach in vielfältiger Weise. Heute, nicht zuletzt unter dem Einfluss der vom Menschen herbeigeführten Schädigungen der Natur, ist ein politisiertes und popularisiertes Begriffsverständnis gebräuchlich, bis hin zur Charakterisierung eines Menschen, der derartige Schädigungen kritisiert und für ihre Vermeidung eintritt, als „Öko“.

Nähern wir uns dem Thema aus wissenschaftlicher Perspektive, dann ist hier der Begriff der Biodiversität von zentraler Bedeutung. Der Begriff bezeichnet die Vielfalt der Lebewesen, die in einem bestimmten geographischen Gebiet vorkommen, und zwar hinsichtlich der Anzahl der Arten, der genetischen Vielfalt innerhalb der jeweiligen Art, der Vielfalt an Lebensräumen in einem Gebiet sowie der funktionalen Diversität, d.h. der Vielfalt ökologischer Funktionen und Prozesse im Ökosystem. Wie viele Arten auf der Erde existieren, ist wissenschaftlich umstritten, weil genauere Zählungen unmöglich sind. Die Schätzungen variieren zwischen 1,5 und 20 Millionen. Knapp die Hälfte davon sind Insekten.

Nach einhelliger wissenschaftlicher Auffassung ist eine hohe Biodiversität die wesentliche Grundlage für die Fortexistenz des Lebens auf dem Planeten, und damit auch die Grundlage des menschlichen Lebens, dessen Sicherung davon abhängt, auf eine vielfältige Population von Tieren und Pflanzen zugreifen zu können. Das hängt vor allem damit zusammen, dass Pflanzen, Tiere und übrige Lebewesen nicht isoliert nebeneinander leben, sondern in ihrer Existenz aufeinander angewiesen sind. Pflanzen sind Nahrungsgrundlagen für Tiere und Menschen, Insekten setzen Nährstoffe im Boden um, schaffen durch Bestäubung die Grundlage unserer Nahrungskette, fressen Schädlinge und tragen so zur Pflanzengesundheit bei. Das Leben findet statt in einem dynamischer Zusammenhang von „Gemeinschaften aus Pflanzen, Tieren und Mikroorganismen sowie deren nicht lebender Umwelt, die als funktionelle Einheit in Wechselwirkung stehen“, wie es im Welt-Biodiversitäts-Abkommen von Rio 1992 heißt. So ist das Funktionieren des Gesamtsystems Grundlage für das Leben der einzelnen Individuen und die Quantität und Qualität der Individuen einer Art bedingen das Funktionieren des Systems und seine Widerständigkeit (Resilienz) gegenüber äußeren Einflüssen.

Tatsächlich ist die Biodiversität jedoch insbesondere in der jüngeren Vergangenheit deutlich zurückgegangen und eine Umkehr dieser Entwicklung ist nicht in Sicht, im Gegenteil: Laut Living Planet Report, den der WWF seit Ende des vergangenen Jahrhunderts alle 2 Jahre veröffentlicht, verschärft sich der Rückgang ständig. Auf der aktuellen Roten Liste der bedrohten Tier- und Pflanzenarten werden von den mehr als 150.000 erfassten Arten 42.100 Arten als bedroht eingestuft. Noch schlimmer sieht es bei den Insekten aus: Es wird angenommen, dass ca. 40 % aller Insektenarten vom Aussterben bedroht sind. Dazu kommt, dass auch die Population in den Insektenarten, die bisher nicht vom Aussterben bedroht sind, ständig zurückgeht. In den letzten knapp 30 Jahren ist die Biomasse aus Insekten um mehr als 75% zurückgegangen und sie geht weiter zurück.

  Die Ursachen für diese Entwicklung sind vielfältig und meist menschengemacht. Der Lebensraum von frei lebenden Tieren und Wildpflanzen schrumpft infolge der sich immer weiter ausdehnenden menschlichen Siedlungen und Wirtschaftstätigkeit und nicht zuletzt durch die immer intensiver betriebene Landwirtschaft. Die Distanz von unberührter Natur zu vom Menschen genutzten Gebieten wird immer geringer. Wir übernutzen die natürlichen Ressourcen z.B. durch Überfischung und Wilderei. Der Klimawandel macht Lebensräume unbewohnbar für Pflanzen, Tiere und Menschen, sowohl durch Überhitzung als auch durch Naturkatastrophen wie Starkregen und Überflutungen. Wir belasten Böden und Meere durch die Eintragung von Kunst- und Giftstoffen, die nicht abgebaut werden können. Invasive Arten besiedeln oft dank menschlicher Unachtsamkeit fremde Ökosysteme und (zer)stören deren Funktionszusammenhänge. Und alle diese Ursachen verstärken sich gegenseitig.

  Zusammenfassend konstatiert der WWF: „Wir befinden uns heute im größten Artensterben seit dem Ende der Dinosaurierzeit vor 65 Millionen Jahren. Ein Viertel der Säugetierarten, jede achte Vogelart, mehr als 30 Prozent der Haie und Rochen sowie 40 Prozent der Amphibienarten sind bedroht. Dass Arten aussterben, ist ein natürlicher Prozess, der jedoch heute unter dem Einfluss des Menschen beträchtlich beschleunigt ist. Wir sägen an dem Ast, auf dem wir sitzen. Nahrung, Medizin, Rohstoffe, sauberes Wasser und Luft sind nur einige der wichtigen Dinge, die die Natur uns zur Verfügung stellt. Es ist längst Zeit, zu handeln.“

Ökonomen haben versucht, den Artenverlust in Geld zu bewerten, um klar zu machen, dass diese menschengemachten Eingriffe in die Natur wohlstandsmindernde Auswirkungen haben, die man auch beziffern kann. So soll allein in Deutschland der Wert der von Bienen, Schmetterlingen und andere Bestäubern erbrachten Dienstleistungen jedes Jahr einen Wert von 3,8 Milliarden Euro ausmachen. Der weltweite volkswirtschaftliche Nutzen soll sich gar auf eine Billion US-Dollar belaufen, wie Wissenschaftlern der Universität Hohenheim errechnet haben.

Der Umweltökonom Robert Costanza hat zusammen mit anderen Forschern den globalen wirtschaftlichen Nutzen der Ökosystemdienstleistungen für das Jahr 2011 auf 125 bis 145 Billionen Dollar geschätzt und den Verlust von Ökosystemen in den Jahren zuvor auf 4,3 bis 20 Billionen pro Jahr, gigantische Beträge, die dennoch von anderen Experten als deutlich zu gering eingeschätzt werden.

Eine groß angelegte Studie der US-amerikanischen Stanford Universität unternimmt den Versuch, den Geldwert der nicht-menschlichen Natur in ihrer Gesamtheit zu berechnen, also das Naturvermögen der Menschheit zu bestimmen. Diese Forschungen sind bereits teilweise in die politische Praxis einiger Staaten eingeflossen. So hat der Staat Costa Rica nach Aussage der Stanford-Ökonomin Gretchen Daily bereits ein Bezahlsystem für Ökoleistungen eingeführt: „Die Regierung hat verstanden, dass die Regenwälder essenziell für das Überleben des Landes sind. Statt Leute vom Abholzen der Wälder profitieren zu lassen, werden die Waldbesitzer und Einheimischen für den nachhaltigen Schutz der Wälder und auch des Wassers bezahlt.“

Ich stehe, obwohl selbst Ökonom,  derartigen Berechnungen skeptisch gegenüber, denn hier Geldbewertungen durchzuführen, heißt für mich, den Bock zum Gärtner zu machen. Denn es ist ja gerade das unersättliche Geldstreben, das den größten Teil der Naturschädigungen bewirkt. Andererseits ist Geld offenbar die Sprache, der die Menschen, Politiker und erst recht die Wirtschaftsführer weltweit die größte Beachtung zukommen lassen.

Nicht nur die unbestreitbare Nützlichkeit resilienter Ökosysteme für den Menschen macht biologische Vielfalt bedeutsam. Auch ethische Gesichtspunkte sollten uns daran hindern, die nicht-menschliche Natur gering zu schätzen und ihr Schaden zuzufügen, und zwar nicht nur, weil und solange sie für den Menschen nützlich ist. Diese Auffassung vertreten viele Menschen z.B. vor dem Hintergrund des christlichen Weltbilds, nach dem zwar der Mensch die Fähigkeit hat, die nicht-menschliche Natur zu beherrschen, dies aber in einer klugen, allen Geschöpfen gerecht werdenden Weise tun sollte, die die Lebensgrundlagen für alle bewahrt.

Weiter gehen sog. physiozentrische Naturauffassungen, die allen Lebewesen und der Natur als Ganzer einen moralischen Eigenwert zusprechen und für schützenswert erachten. Auch wenn der Mensch als Naturwesen die nicht-menschliche Natur zur Bestreitung seines Lebens nutzt und nutzen muss, gilt es danach, Schaden so weit wie möglich von ihr abzuwenden, weil alle Lebewesen ein gleiches Lebensrecht für sich beanspruchen können. Ausdruck finden diese Auffassungen z.B. im Konzept „Rechte der Natur“, das dafür eintritt, der Natur eine eigene Rechtspersönlichkeit zuzuerkennen, dies z.B. im deutschen Grundgesetz oder der UN-Charta zu verankern und damit Klagemöglichkeiten zu schaffen, wenn Politik oder Wirtschaft diese Rechte missachten.

Unabhängig davon, ob man ethische Konzepte vertritt oder allein auf Nützlichkeit abstellt, ist zu fragen: Was können wir tun, um dem Artensterben entgegenzutreten? Ähnlich wie beim Klimaschutz sind hier vor allem politische Weichenstellungen und Aktivitäten gefordert. Denn auch wenn der/die Einzelne Naturschutz fördern und gegen den Klimawandel eintreten kann, sind für Maßnahmen gegen den Biodiversitätsverlust Staaten und die Staatengemeinschaft „zuständig“. Das wurde bereits 1992 auf der Weltumweltkonferenz in Rio de Janeiro beschlossen und seither in insgesamt 15 UN-Konferenzen weiterentwickelt. Die jüngste dieser Konferenzen fand 2022 in Montreal ihren Abschluss, nachdem die ursprünglich in Kunming (China) anberaumte Konferenz wegen Corona nur virtuell durchgeführt werden konnte.

Im Gegensatz zu einigen Vorläuferkonferenzen, auf denen wegen diverser Interessengegensätze z.B. zwischen Industrie- und Entwicklungsländern kaum anspruchsvolle Beschlüsse gefasst werden konnten, gilt das Ergebnis der Montrealer Konferenz als substantiell und ambitioniert.

Die wichtigsten Ziele:

·         Mindestens 30 % der weltweiten Land- und
Meeresfläche soll unter effektiven Schutz gestellt werden, vor allem Gebiete mit hoher biologischer Vielfalt, die besonders schützenswert sind.

·         30 % der geschädigten Ökosysteme an Land und im Meer sollen bis 2030 renaturiert werden.

·         Der Eintrag von Düngemittelüberschüssen in die Umwelt und die Risiken durch Pestizide und sehr gefährliche Chemikalien sollen bis 2030 halbiert werden

·         Die Lebensmittelverschwendung soll ebenso wie die Verbreitung invasiver Arten halbiert werden.

·         Staaten sollen die Grundlage dafür schaffen, dass Unternehmen und Finanzinstitutionen offenlegen, wie sich ihre Aktivitäten auf die biologische Vielfalt auswirken.

Jedes Land verpflichtet sich, in seiner nationalen Biodiversitätsstrategie darzustellen, wie es zum Erreichen der globalen Ziele beiträgt. Um das zu messen, gibt es einheitliche Indikatoren, die für alle Staaten gelten. Mit Hilfe nationaler Berichte wird regelmäßig überprüft, ob die Anstrengungen ausreichen, um den globalen Zielen näher zu kommen..

Die Finanzierung soll vor allem zulasten der Industrieländer erfolgen: 30 Mrd. $ sollen bis 2030 pro Jahr für den Schutz der biologischen Vielfalt aus Ländern des globalen Nordens in den globalen Süden fließen, 20 Mrd. $ bereits im Jahr 2025. 200 Mrd. $ pro Jahr sollen weltweit insgesamt bis 2030 mobilisiert werden für den Schutz der biologischen Vielfalt – in allen Ländern zusammen, 500 Mrd. $ an biodiversitätsschädlichen Subventionen sollen bis 2030 weltweit abgebaut werden. Ein neuer Fonds wird gegründet, mit dem Ziel, die Umsetzung der globalen Vereinbarung zu unterstützen.

Umweltschützer reagieren allerdings überwiegend zurückhaltend. Das Abkommen reiche nicht aus, um das Massensterben der Arten aufzuhalten, kritisiert Greenpeace. Es werde weiterhin industrielle Fischerei und Holzeinschläge in Schutzgebieten geben. Zudem reiche die zugesagte Finanzierung bei weitem nicht aus und die gesetzten Ziele seien zu vage, um die getroffenen Maßnahmen hinsichtlich ihrer Erfolge messbar zu machen.

Weitgehend ausgespart blieb bei diesem Abkommen die Hochsee, also Meeresflächen außerhalb der 200-Seemeilen-Zonen, die als jeweils nationale Territorien gelten. Das sind immerhin etwa 60% der weltweiten Meeresflächen, die einen weitgehend rechtsfreien Raum darstellen und in denen bisher keine Schutzvorschriften gelten. Auch hier lassen sich bereits deutliche Biodiversitätsverluste und darüber hinaus Verschmutzungen z.B. durch Plastikabfälle feststellen. Nicht zuletzt gibt es Begehrlichkeiten vor allem der Industrieländer, die dort vermuteten Ressourcen auszubeuten. Gerade aber wurde auf einer weiteren internationalen Konferenz in New York beschlossen, auch hier Schutzvorschriften zu etablieren. So sollen auch im Hochseebereich 30% der Meeresflächen geschützt werden. Wer das durchsetzen und kontrollieren soll, bleibt allerdings wie bei vielen internationalen Umweltabkommen eine offene Frage. Immerhin ist die Blockade durch einzelne Staaten künftig ausgeschlossen, da keine Einstimmigkeit mehr erforderlich ist. Zunächst aber muss das Abkommen noch durch mindestens 60 Staaten ratifiziert werden.

Fassen wir zusammen. Es ist unstrittig, dass der derzeitige Biodiversitätsverlust bereits erhebliche Schäden an der nicht-menschlichen Natur angerichtet hat. Vermutlich ist das ganze Ausmaß der Schäden noch gar nicht absehbar, weil der Ausfall einzelner Arten und Unterarten in seinen Wirkungen für das Gesamtsystem oft zeitverzögert eintritt. Wie auch immer man argumentiert, um Maßnahmen zum Biodiversitätsschutz zu begründen, sie sind überfällig und erfassen bisher keineswegs alle Schädiger in angemessenem Umfang. Mehr Mut und wirksame Kontrolle sind gefordert.