Gießkanne und Füllhorn

Jetzt muss es wieder einmal etwas Aktuelles sein (auch wenn sich die Fertigstellung und Veröffentlichung des Textes krankheitsbedingt leider um einen ganzen Monat verzögert hat). Fast 3 Jahre lang wurde unser Alltag und weithin auch unser Denken von der Corona-Pandemie bestimmt, nicht wirklich freiwillig. Seit Februar dieses Jahres hat sich der Ukraine-Krieg, genauer der militärische Angriff Russland auf die Ukraine, in den Vordergrund gedrängt. Und in seinem Gefolge türmen sich große wirtschaftliche Probleme auf: Energiekrise, Inflation, weitere Störungen der weltweiten Lieferketten, um nur einige zu nennen. Viele Menschen haben Angst, dass sie ihre laufenden Rechnungen nicht mehr bezahlen können. Die Regierenden bemühen sich daher zu helfen, dass sich die Probleme nicht weiter verschärfen. Und wieder einmal fällt ihnen nur ein, den Unternehmen und Bürgern finanzielle Unterstützungsmaßnahmen zu gewähren, egal ob sie diese nötig haben oder nicht (Gießkanne). Und dann unternehmen sie alles, dass genügend Gas, Strom und Benzin da sind, damit möglichst Wirtschaft und Verbraucher beinahe genau so weitermachen können, wie sie es gewöhnt sind (Füllhorn). Das lechzt geradezu nach kritischen Anmerkungen.

  Da ist tatsächlich so vieles angekündigt, versprochen und teilweise auch schon ausgeschüttet worden, dass kaum noch jemand durchblickt. Versuchen wir also eine Bestandsaufnahme: Ein erstes Entlastungspaket im Umfang von etwa 13 Mrd. € wird bereits im Februar 2022 beschlossen. Darin steht vor allem den Wegfall der sog. EEG-Umlage  beeits zum 1.7. 2022, die Erhöhung der Pendlerpauschale sowie einmalige Zuschüsse von 100 € für die Bezieher von Arbeitslosengeld II, Grundsicherung oder Sozialhilfe sowie einen Sondersofortzuschlag für arme Kinder von 20 €. Beschäftigte erhalten eine Erhöhung der Arbeitnehmerpauschale um 200 € sowie des Grundfreibetrags um 363 €. Ein Paket mit Schwerpunkt bei der Unterstützung von Arbeitnehmern und Fern-Pendlern, aber auch der Berücksichtigung von Sozialleistungsempfängern.

  Gleich nach Kriegsbeginn kommt der 100 Milliarden „Wumms“ (Originalton Bundeskanzler Scholz) Er galt allerdings nicht dem Ausgleich für gestiegene Energiekosten, sondern der Aufrüstung der Bundeswehr, um endlich den Nato-Verpflichtungen von Militärausgaben in Höhe von 2% des Bruttoinlandsprodukts nachzukommen.

  Damit der im Koalitionsvertrag angekündigte zügige Ausbau der Erneuerbaren Energien nicht ganz ins Hintertreffen geriete, stellt der Wirtschafts- und Energieminister im April ein „Osterpaket“ zur Energiewende vor.  Darin wird vor allem der Ausbau der Fotovoltaik und der Windkraft auf See adressiert, der Windkraft an Land dagegen kaum Aufmerksamkeit geschenkt. Es sind vor allem die größeren kommerziellen Versorger, denen die Zuwendung gilt. Insgesamt bleiben aber Ausbau und weitere Planungen sowie der Abbau der Genehmigungshürden deutlich hinter dem zurück, was notwendig wäre, um das Ziel von 80% Erneuerbaren bis 2030 wirklich zu erreichen.  Eine gezielte Förderung der Bürgerenergie z.B. durch die Ermöglichung privater Nahversorgung der Nachbarn kommt nicht vor. Stattdessen werden im Wind-an-Land-Gesetz - allerdings erst im Sommer - vor allem den Bundesländern die Ausweisung von mehr Vorrangflächen für Windkraftanlagen zur Auflage gemacht und die Möglichkeiten zur zügigen behördlichen Genehmigung des Ausbaus durch Änderungen im Naturschutzgesetz verbessert.

 Dann folgt ein weiteres Energiekosten-Ausgleichs-Paket: Eine 300€ Energiepreis-Pauschale für alle einkommensteuerpflichtigen Erwerbstätigen, die der Steuerpflicht unterliegt, 100€ Einmalbonus für jedes Kind, erneut 100€ für Sozialleistungsempfänger, die auf 3 Monate befristete Reduzierung der Benzinsteuer auf europäisches Mindestniveau, ein ebenfalls befristetes bundesweit gültiges 9-€-Ticket für den öffentlichen Nahverkehr. Zusätzliche Anreize für den Austausch von mit fossiler Energie betriebenen Heizungen werden in Aussicht gestellt.  Dieses Paket ist weder sozial ausgewogen noch energiepolitisch auf Sparziele hin orientiert, im Gegenteil. "Das Pakt bedeutet eine Entlastung mit der Gießkanne und ist deshalb fiskalisch teuer und wenig zielgenau", kritisierte ifo-Präsident Clemens Fuest. Die Benzinsteuersenkung regt zum Weiter-So an und überlässt es den Ölkonzernen, ob sie sie an die Verbraucher weitergeben. Die Energiepreispauschale wird auch denen gewährt, die sie überhaupt nicht benötigen, aber denen verwehrt, die sie dringend brauchen, nämlich Rentnern und Studierenden. Das 9-€-Ticket stimuliert die Inanspruchnahme von Baus und Bahn, egal ob diese notwendig oder just for fun ist. Ob sie nach Auslauf der Befristung wirklich zum Umstieg auf die Öffis führt, ist allemal offen angesichts der oft mäßigen Qualität der Angebote und des ins Auge gefassten Preises von nun nicht mehr 9€, sondern 49€ monatlich.Tatsächlich wird vor allem der Freizeitverkehr spürbar angeregt, für einkommensschwache Nutzer ist der Preis zu hoch.

  Als dann bekannt wird, dass die Gaslieferungen aus Russland völlig zum Erliegen kommen, packt die Regierung das schwerste, sprich teuerste Geschütz aus. Ende September kündigt der Bundeskanzler einen „Doppelwumms“ an.  Für bis zu 200 Mrd. Euro will die Regierung Hilfen zur Abfederung der gestiegenen Energiepreise auf den Weg bringen. Was im Einzelnen das bedeutet, bleibt vorläufig vage.  Bekannt wird lediglich der Vorschlag der vom Kabinett eingesetzten Expertenkommission. Dieser propagiert für private Verbraucher und kleine und mittlere Unternehmen im Dezember 2022 eine staatliche Einmalzahlung in Höhe des von den Versorgern geforderten Abschlags, gefolgt von einer sog. Gaspreisbremse ab März 2023. Sie soll den Verbrauchern eine bezahlbare Versorgung mit Gas und Fernwärme gewährleisten. Für ein Grundkontingent von 80% des bisherigen Verbrauchs soll ein Gaspreis von 12 Cent pro KWh gelten, ein Fernwärmepreis von 9,5 Cent. Ab einem zu versteuernden Jahreseinkommen von 72.000 € muss der staatlich gewährte Zuschuss versteuert werden. Alles was darüber hinaus verbraucht wird, muss zum jeweilig geltenden Marktpreis bezahlt werden. Für die größeren Industriebetriebe gibt es keine Einmalzahlung, sondern ab Januar 2023 gilt für sie ein auf 70% festgelegter Deckel mit einem Preis von 7 Cent pro KWh. Unternehmen sollen zudem zu standortbezogenen Beschäftigungsgarantien verpflichtet werden. Die jeweilige Differenz zum Marktpreis trägt in allen Fällen der Staat.

 Auch dieses Konzept kann eine soziale Schieflage nicht verbergen. Denn die Deckelung auf einen bestimmten Prozentsatz des bisherigen Verbrauchs belohnt alle diejenigen Verbraucher, die sich bisher mehr als den Durchschnittsverbrauch geleistet haben und bestraft diejenigen, die bisher schon sparsam waren. Denn wer eine Wohnung von 60m2 mit Gas beheizt, hat bisher bereits durchschnittlich nur die Hälfte dessen verbraucht, was eine Wohnung von 120m2 „schluckt“. Der von 20% „Restverbrauch“ bei Verbrauchern und 30% bei größeren Unternehmen zu Marktpreisen ausgehende Sparanreiz belohnt ebenfalls diejenigen, die bisher kaum Sparanstrengungen unternommen haben, weil sie größere Sparpotentiale haben dürften als bisher bereits sparsame Verbraucher. Sowohl sozial als auch ökologisch sinnvoller wäre ein Konzept, das in Abhängigkeit von der Haushaltsgröße bzw. der im Haushalt lebenden Personenzahl 80% des durchschnittlichen Gasverbrauchs der Vorjahre, also eine bestimmte feste Verbrauchsmenge, keinen Prozentsatz des tatsächlichen Verbrauchs bezuschusst. Zudem könnten nachgewiesene Einsparungen prämiert werden. Es könnte eine Prämie auf nicht verbrauchte KWh ausgelobt werden, gemessen als Differenz zwischen aktuellem Verbrauch und dem durchschnittlichen Verbrauch der Vorjahre. Um hier nicht wiederum die „Großverbraucher“ zu bevorzugen, müsste allerdings die relative, nicht die absolute Einsparung zugrunde gelegt werden. Gezielte und sozial gerechte finanzielle Unterstützung anstatt Gießkanne!

  Angesichts der in jüngster Zeit vor allem diskutierten finanziellen Fördermaßnahmen ist die andere Seite der Medaille allerdings fast schon wieder in Vergessenheit geraten. Denn angefangen hat die hektische Betriebsamkeit der Berliner Politik ja mit dem fieberhaften Bemühen, ausbleibende russische Gas- und Öllieferungen durch Gas aus anderen Quellen zu ersetzen. Der Wirtschafts- und Energieminister antichambrierte (erfolgreich, wie wir heute wissen) sowohl bei diversen nahöstlichen Herrschern als auch bei einschlägigen US-amerikanischen Fracking-Unternehmen. Entsprechende Anlande-Terminals für Flüssiggas-Frachtschiffe wurden unter Missachtung sonst üblicher Genehmigungs-Standards auf den Weg gebracht. Die Devise hier hieß: soviel wie möglich, auch wenn dadurch die Weltmarktpreise in die Höhe getrieben werden. In Deutschland wurden 2020 rund 86,5 Milliarden Kubikmeter Erdgas verbraucht, etwa 50% davon lieferte Russland. In der gesamten EU wurden bereits 2019 knapp 20% des Erdgases durch LNG gedeckt. Hatte es nicht geheißen, man wolle raus aus den fossilen Energiequellen und das schon spätstens bis 2045?

 Alle diese Planungen sind heute, über 4 Wochen nachdem ich diesen Text zu schreiben begonnen habe, weitgehend vom Gesetzgeber beschlossen. Einiges, wie das 49€-Ticket steckt noch fest im Streit um die Finanzierung zwischen Bund und Ländern. Man kann also resümieren: Die Angst vor Energiemangel vor allem in der Wirtschaft war ein schlechter Ratgeber. Sie hat Maßnahmen befördert, die das Bekenntnis zum Klimaschutz so weit in den Hintergrund gedrängt haben, wie man es sich bei Amtsantritt der Ampel nicht hätte vorstellen mögen. Zweifellos, die aktuelle Lage ist außergewöhnlich und erfordert pragmatisches Handeln weit über das bisher Denkbare hinaus. Aber so, dass der Wille zu konsequentem Klimaschutz mit einer schnellen Energiewende überhaupt nicht mehr erkennbar ist, müsste es wirklich nicht sein. Zwischen Handeln und Tun klafft wieder einmal eine große Lücke. Und ja, konsequenter Klimaschutz ist vor allem unter 16 Jahren Merkel-Regierungen vernachlässigt worden. Das sollte aber doch fundamental anders werden. Leider ist derzeit davon so gut wie nichts mehr zu erkennen.