Agrar- und Ernährungswende - eine Mammutaufgabe.

 

  Immer wieder kann man davon hören und lesen, dass Bauern gegen zu geringe Erzeugerpreise demonstrieren und ihrem Protest durch Treckerblockaden der großen Handelsunternehmen und andere Protestformen Nachdruck verleihen. Zudem gibt es jedes Jahr aus Anlass der Ernährungsmesse Grüne Woche eine Großdemonstration in Berlin, auf der Naturschützer und Bauern gemeinsam für eine Umkehr in der Landwirtschafts- und Ernährungspolitik auf die Straße gehen. Nicht zuletzt klagen Ernährungsfachleute darüber, dass sich die Deutschen überwiegend ungesund ernähren: zu viel Fleisch, Zucker und Salz, zu viel Fertigprodukte.

  Was müsste geschehen, um auf Grundlage einer nachhaltigen Landwirtschaft die Möglichkeit für eine nachhaltige Ernährung zu schaffen?

 

 

 Welches ist der wichtigste Wirtschaftszweig in Deutschland? Die meisten werden spontan die Autoindustrie nennen. Dort arbeiten tatsächlich ca. 830.00 Menschen in knapp 1.000 Betrieben und sie erwirtschaftet einen Umsatz von ca. 430 Mrd. €. 2019 wurden in deutschen Autofabriken 4,6 Mio. Fahrzeuge hergestellt, etwa 75% davon wurden exportiert.  In der deutschen Landwirtschaft allerdings sind mehr Menschen beschäftigt als in der vermeintlich wichtigsten Branche des „Exportweltmeisters“, nämlich ca. 950.000, nur übertroffen vom Dienstleistungssektor. Sie erwirtschaften auf einer Fläche von ca. 18 Mio. ha allerdings nur einen Umsatz von ca. 50 Mrd. €, von dem auch nur ca. 33% exportiert wird. Es sind gut 2% der Beschäftigten, die ca.1,7 % der Wertschöpfung leisten, und das in mehr als 260.000 Betrieben.

  Finanzwirtschaftlich betrachtet mag damit die Autoindustrie an der Spitze liegen. Die Landwirtschaft ist dennoch der zentrale Sektor der deutschen Wirtschaft. Sie erzeugt, ergänzt um die Lebensmittelindustrie mit mehr als 6.000 Betrieben und noch einmal etwa 620.000 Beschäftigten, die Dinge, die wir alle zum täglichen Leben benötigen. Mag – nach Loriot - ein Leben ohne Mops möglich, aber sinnlos sein: Ein Leben ohne Auto ist für immer mehr Menschen vorstellbar. Ein Leben ohne Milch, Eier und Fleisch ist für Veganer erstrebenswert. Auf Brot, Gemüse und Früchte aber kann kein Mensch verzichten. Zudem wird etwa die Hälfte der Fläche Deutschlands landwirtschaftlich genutzt. Damit hat die Landwirtschaft auch erheblichen Einfluss auf Böden, Gewässer, Luft, Klima, die biologische Vielfalt und über ihre Produkte auf die Gesundheit der Menschen. Denn letztlich sind wir das, was wir essen und trinken und wir sind zudem – zumal außerhalb der Städte – überall von Landwirtschaft umgeben.

  In früheren Zeiten war die Bedeutung der Landwirtschaft noch erheblich größer. Als sesshafte Bauern betätigen sich die Menschen seit etwa 11.000 Jahren. Bis dahin waren sie Jäger und Sammler, weitgehend besitzlos umherziehend. Die Sesshaftigkeit hat zwar den materiellen Wohlstand befördert, stellt aber auch den Beginn allen Übels dar, weil mit ihr die menschliche Herrschaft über die Natur ihren Anfang nahm, deren Auswüchse wir heute beklagen. Jedenfalls begannen damit die Rodung von Wäldern, der Anbau von Feldfrüchten und die Domestizierung von Tieren. Die Bevölkerungszahlen wuchsen und mit ihnen die soziale Differenzierung sowie die ungleich verteilte Anhäufung von materiellen Besitztümern, die nicht zuletzt kriegerische Auseinandersetzungen nach sich zog.

  Viele Jahrtausende lang konnten die Menschen als sesshafte Bauern oft nicht einmal die lebensnotwendigen Nahrungsmittel für alle herstellen. Daher wurden immer mehr Flächen landwirtschaftlich nutzbar gemacht und es entwickelten sich spezialisierte Arbeitsbereiche innerhalb und außerhalb der engeren bäuerlichen Tätigkeit. Immer mehr Menschen konnten ernährt werden, ohne dass sie in Ackerbau und Viehzucht tätig waren. Handwerk und Handel differenzierten die Gesellschaft, neue Herrschaftsstrukturen entwickelten sich. Aber das Entwicklungstempo blieb bis ins Mittelalter hinein gemächlich, auch wenn Neuerungen wie z.B. die Dreifelderwirtschaft steigende Erträge ermöglichten. Noch bis ins 18. Jahrhundert hinein waren mehr als 75% der arbeitenden Menschen in Deutschland in der Landwirtschaft tätig.

 Erst die Entwicklung von motorisierten landwirtschaftlichen Fahrzeugen und Maschinen und von chemischen Hilfsmitteln zur Düngung und „Schädlings“bekämpfung brachten Dynamik in die Landwirtschaft. Die Entwicklung von Gewerbe und Industrie führten zu erheblicher Reduzierung der Zahl der landwirtschaftlichen Betriebe und Arbeitskräfte. Auch die Ökonomisierung und Mechanisierung waren Triebfedern für eine deutliche Reduzierung der Zahl der Höfe. Gab es in den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts noch ca. 2 Mio. bäuerliche Betriebe mit einer durchschnittlichen Größe von 7,5 ha, so sind es heute nur gut 260.000 Betriebe mit einer durchschnittlichen Fläche von 62,5 ha. Dabei ist eine zunehmende Trennung zu beobachten zwischen Vieh- und Ackerbaubetrieben, verbunden mit deutlich gesteigerter Produktivität und einer immer höheren Exportquote. Ernährte in den 50er Jahren ein Landwirt mit seiner Arbeit 10 Menschen, so sind es heute 140. Der Trend zur Industrialisierung der Lebensmittelproduktion ist unübersehbar.

  Dabei dominiert Ackerland (71 Prozent der Gesamtfläche), denn größere Betriebe bewirtschaften vor allem Äcker, während Viehwirtschaft immer stärker in geschlossenen Ställen stattfindet. Das geht mit einer Verdrängung von Grünland einher. Die Folgen: Eine Erhöhung der produzierten Mengen in fast allen Bereichen. 1950 ernteten Bauern noch 2,6 Tonnen Weizen pro Hektar Ackerland, heute sind es 8,1 Tonnen, verbunden mit unerwünschten ökologischen Folgen: Bodenbelastungen mit Nitrat und Rückständen chemischer Hilfsstoffe, Rückgang der Artenvielfalt bei frei lebenden Tieren, ökonomisch motivierter Ersatz von Nahrungsmittelanbau durch den Anbau von Energiepflanzen wie Raps und Mais. Bäuerliche Landwirtschaft in überschaubaren Betriebsgrößen ist kaum mehr auskömmlich zu betreiben.

  Lediglich die wenigen verbliebenen bäuerlichen Klein- und Mittelbetriebe und Öko-Bauern stellen sich gegen diese Trends. Erstere suchen ihre Zukunft in Angebotsnischen und der Direktvermarktung über Hofläden und Wochenmärkte. Letztere verzichten grundsätzlich auf chemische Pflanzenschutzmittel und mineralische Düngemittel und betreiben artgerechte Tierhaltung. Das schützt Boden, Wasser und Luft und hilft, die Artenvielfalt zu erhalten. Ziel des Öko-Landbaus ist eine Kreislaufwirtschaft mit möglichst geschlossenen Nährstoffzyklen und ohne Gentechnik. Es gibt etwa 34.000 Öko-Betriebe, 13% der landwirtschaftlichen Betriebe insgesamt. Der Anteil der ökologisch bewirtschafteten Fläche macht in Deutschland ca. 10% aus, beim europäischen Spitzenreiter Österreich ca. 25%. Die durchschnittliche Fläche pro Betrieb ist kleiner als bei konventionellen Betrieben (47 ha statt 62,5 ha).

  Insgesamt allerdings ist die europäische Landwirtschaft, ob konventionell oder ökologisch, seit langem wirtschaftlich nicht überlebensfähig ohne erhebliche staatliche Fördermittel. Das geht zurück bis in die Anfänge der EU, als bereits 1957 die Gründungsmitglieder der Europäischen Gemeinschaften eine gemeinsame Landwirtschaftspolitik vereinbarten, um die Autarkie in der Lebensmittelversorgung zu sichern. Ziel war es vor allem, die europäische Landwirtschaft gegen außereuropäischen Wettbewerb zu schützen. Dazu wurde eine Gemeinsame Agrarpolitik (GAP) entwickelt, deren finanzieller Umfang anfangs bis zu 70% des gesamten EG-Haushalts ausmachte. Zentrale Kennzeichen waren Preis- und Abnahmegarantien für heimische landwirtschaftliche Produkte, die Beschränkung von Importen durch Zölle und die finanzielle Förderung von Exporten, durchweg Maßnahmen, die auf eine mengenmäßige Ausweitung der Produktion und die Steigerung der Produktivität gerichtet waren.

  Diese Fördermaßnahmen führten jedoch zu Problemen sowohl im Innen- als auch im Außenverhältnis zu Drittstaaten und wurden deshalb seit 1993 durch eine veränderte Förderpolitik abgelöst. Diese führte weg von der Markt- und Preisstützung hin zur direkten Einkommensstützung in Form von flächenabhängigen Direktzahlungen. Zudem werden angesichts der längst erreichten Selbstversorgung die Entwicklung des ländlichen Raums sowie der Schutz der natürlichen Umwelt und eine ökologisch nachhaltige Landwirtschaft in die EU-Förderung einbezogen.

 Insgesamt hat die EU 2017 immer noch ca. 40% ihres Haushalts für Agrarsubventionen ausgegeben. Davon erhielten die deutschen Bauern etwa 6,45 Mrd. €, etwa 78% als flächenabhängige Direktzahlungen (1. Säule), der Rest bezogen auf Maßnahmen zur Entwicklung des ländlichen Raums und für den Ökolandbau (2. Säule). Für den Planungszeitraum 2021 bis 2027 soll die Förderung stärker auf „grüne“ Aktivitäten abgestellt werden. 25 % der Direktzahlungen an die Bauern sollen an Umweltauflagen gebunden sein. Zusätzlich sollen ab 2023 10 % der Direktzahlungen in die zweite Säule fließen und unter anderem nachhaltiger Landwirtschaft und dem Tierschutz zugutekommen. Ab 2026 soll der Prozentsatz für die Umschichtung des Geldes in diese zweite Säule bei 15 % liegen.

 Umweltverbände kritisieren den Anteil der umweltabhängigen Förderung als zu niedrig - er müsse mindestens 30 Prozent betragen und jährlich um weitere fünf Punkte wachsen, fordert etwa der WWF. Gewerkschaften fordern Maßnahmen zur Verbesserung der Löhne und Arbeitsbedingungen. Viele Beschäftigte in der Landwirtschaft arbeiten zu sehr niedrigen Löhnen und als Saisonkräfte unter schlechten Arbeits- und Lebensbedingungen. Ausländischen Erntehelfern bleibt häufig sogar die Krankenversicherung verwehrt.

  Schaut man von der Erzeugerseite auf die Verbraucher, dann fällt vor allem auf, dass der Anteil der Haushaltsausgaben für Lebensmittel seit den 50er Jahren des vergangenen Jahrhunderts stark gefallen ist. Seinerzeit betrug er noch fast 50%, seit 2000 bewegt er sich dagegen nur noch im Bereich von etwa 15%. Ähnlich hoch ist der Anteil der Ausgaben für Verkehr, deutlich höher der Anteil der Wohnungskosten mit etwa 25%. Dabei ist das deutsche Preisniveau für Lebensmittel im europäischen Vergleich sehr niedrig und wird nur von (ost)europäischen Ländern mit deutlich niedrigerem Gesamt-Einkommensniveau unterschritten. Die deutschen Verbraucher scheinen (neben den Briten, die nur ca. 8% ihres Einkommens für Lebensmittel ausgeben) eine relativ geringe Wertschätzung für Lebensmittel zu haben.

 Verantwortlich für niedrige Lebensmittelpreise in Deutschland sind aber vor allem die großen Lebensmittelhändler. Noch stärker als in der Landwirtschaft hat sich in dieser Branche seit dem zweiten Weltkrieg ein fundamentaler Strukturwandel vollzogen. Bis in die 60er Jahre des 20. Jahrhunderts gab es eine große Zahl von „Tante-Emma“-Läden, die die Lebensmittelversorgung der deutschen Bevölkerung sicherstellten. Dies waren inhabergeführte Läden mit persönlicher Bedienung und überschaubaren Verkaufsflächen, die für die Menschen fußläufig erreichbar waren. Sie bezogen ihre Waren von regionalen Produzenten, nicht selten vermittelt über Großmärkte. Zur Bündelung ihrer Einkäufe waren viele Einzelhändler Mitglieder von Einkaufsgenossenschaften wie z.B. der Anfang des Jahrhunderts gegründeten EDEKA oder REWE, die sich seither jedoch von Einkaufsgenossenschaften zu Großunternehmen mit vielen Filialen und nur noch wenigen selbständigen Genossenschaftsmitgliedern entwickelten.

  Wie in vielen anderen Branchen  vollzog sich auch im Lebensmittelhandel spätestens seit den 60er Jahren ein Konzentrationsprozess, der aktuell kaum mehr als 4 große Wettbewerber übrig gelassen hat: Edeka, REWE, Lidl und Aldi. Diese großen Unternehmen haben auch die Produktionsstrukturen in der Landwirtschaft erheblich verändert und zu entsprechenden Konzentrationen geführt. Nicht zuletzt liefern sie sich zumindest bei „Signalprodukten“ wie Milch, Fleisch und Backwaren heftige Preiskonkurrenz, oftmals wegen ihrer großen Marktmacht zulasten ihrer landwirtschaftlichen Lieferanten. Auch Bio-Lebensmittel werden zu mehr als 75% über die großen Händler vertrieben, wohingegen die eher kleinen Bioläden nur etwa 25% Marktanteil haben. Insgesamt ist auch auf Grund dieser Verhältnisse das Lebensmittel-Preisniveau in Deutschland deutlich niedriger als in vergleichbaren europäischen Ländern.

 Und da kommen nun die Verbraucher ins Spiel, mit anderen Worten wir alle. Solange wir nicht bereit sind, einen größeren Teil unseres Nettoeinkommens für gute Lebensmittel auszugeben, was wir in Umfragen zwar immer beteuern, in unserem tatsächlichen Kaufverhalten aber kaum einlösen , werden wir den nötigen Wandel in der Land- und ernährungswirtschaft kaum zuwege bringen. Solange der Vorschlag eines Veggiedays für Kantinen Proteststürme auslöst und zu Beschimpfungen und Bedrohungen gegen PolitikerInnen in den „sozialen Netzwerken“ führt , wird sich wenig bewegen.

  Ich möchte an dieser Stelle nicht in die Debatte über eine nachhaltige und sinnvolle Ernährung einsteigen, denn diese wird zumeist mit sehr viel Emotion geführt. Richtig ist ohne Zweifel, dass wir in den Industrieländern nahezu von allem, insbesondere von tierischen Produkten zu viel verzehren und zu viel Nahrungsmittel wegwerfen. Mit ca. 60 kg pro Kopf und Jahr liegt der Fleischkonsum gegenüber der Empfehlung der Deutschen Gesellschaft für Ernährung deutlich zu hoch. Außerdem wirft jede/r Deutsche jedes Jahr ca. 55 kg Lebensmittel weg – knapp die Hälfte davon ist prinzipiell noch genieß- und verwertbar.

Richtig ist auc h, dass die Fleischproduktion einen „unproduktiven“ Umweg darstellt, da zur Tierernährung wesentlich mehr landwirtschaftliche Produkte eingesetzt werden müssen, als wenn der Mensch selbst pflanzliche Produkte verzehren würde. Richtig ist drittens, dass der Hunger in der Welt auch durch eine Umverteilung der Nahrungsmittel von Nord nach Süd bekämpft werden muss. Nach Angaben der Welthungerhilfe leiden über 800 Mio. Menschen (also mehr als10% der Weltbevölkerung!) unter Hunger. 2 Mrd. Menschen verfügen nur über Mangelernährung. Statt diesen Menschen Raum für den auskömmlichen eigenständigen Anbau von Lebensmitteln zu geben, geschieht das Gegenteil. .Die EU und viele andere „entwickelte“ Länder fördern den Lebensmittelexport ihrer Bauern zu Lasten der Landwirtschaft in den Entwicklungsländern.  Dort werden anstelle von Lebensmittelns für die einheimische Bevölkerung vor allem auf großen Plantagen und in großem Umfang Futtermittel für Nutztiere hergestellt, die auf den Tischen der Konsumenten in den Industrieländern landen.

 Richtig ist schließlich, dass die für die menschliche Ernährung unerlässlichen Proteine auch aus Pflanzen und essbaren Insekten gewonnen werden können, wobei letztere für Mitteleuropäer sicher gewöhnungsbedürftig sind. Denn es ist auch unbestreitbar, dass Essen ein kulturelles Phänomen ist, das sich in verschiedenen Weltregionen seit Jahrhunderten unterschiedlich entwickelt hat und wie alle kulturellen Phänomene außerordentlich mühsam verändert werden kann. Eine ausgewogene Ernährung aber ist etwas, das auch mit viel weniger tierischen Komponenten sichergestellt werden kann und sollte, wenn wir ernährungsbedingte Zivilisationskrankheiten reduzieren und auch in diesem Bereich eine nachhaltige, sprich global gerechte und klimaschonende Entwicklung einleiten wollen.

 Die Agrar- und Ernährungswende ist wie alle in diesem Blog diskutierten Wenden ein Projekt, zu dem alle Akteure ihre Beiträge leisten müssen, wenn sie gelingen soll: die Produzenten, der Handel, die Politik und wir alle als Verbraucher. Wie wäre es, wenn hier mal die Politik vorangehen würde!