Ganz Deutschland ist in Aufruhr: Der Vorstand von Volkswagen verkündet düstere Zukunftsaussichten. Die Produktion in Europa, insbesondere in Deutschland, sei zu teuer. Die Kosten müssten erheblich reduziert werden, auch Werksschließeungen stehen auf der Agenda. Die Presse stimmt ein: Vom Sanierungsfall ist die Rede vor allem wegen der zu hohen Löhne und der mangelnden politischen Unterstützung in Sachen Energiepreise, E-Auto-Kaufanreize, bürokratischer Hemmnisse, zu hoher Lohnnebenkosten etc. Und das, obwohl VW geradezu ein Musterschüler bei der Umstellung auf E-Mobilität sei. Mal genauer hinschauen.
Volkswagen ist ein besonderes Unternehmen. Nicht nur ist es einer der weltweit größten Automobilhersteller mit mehr als 600.000 Beschäftigten. In Deutschland ist es sowohl nach Umsatz als auch nach Wertschöpfung über alle Branchen das größte Unternehmen.
Zudem hat das Unternehmen eine ungewöhnliche Geschichte, die bis heute nachwirkt. 1937 wurde es von der Nazi-Organisation KdF als „Gesellschaft zur Vorbereitung des Volkswagens“ gegründet. Das Auto – der „Käfer“ – war bereits seit 1934 auf Befehl Hitlers vom Konstrukteur Ferdinand Piech entwickelt worden. Dieser damals sog. KdF-Wagen sollte jedem Bürger für 990 Mark verfügbar gemacht werden, anzusparen in Raten zu 5 Mark. Dazu wurden das Volkswagenwerk in der Nähe von Braunschweig und gleich dazu eine ganze Stadt mit dem späteren Namen Wolfsburg errichtet, finanziert mit dem 1933 von den Nazis beschlagnahmten Vermögen der deutschen Gewerkschaften.
Die KdF-Wagen, für die viele Menschen tatsächlich gespart hatten, wurden jedoch nie geliefert. Stattdessen wurden in dem neuen Werk Fahrzeuge für die Wehrmacht gebaut. Nur einige wenige PKWs wurden während des Krieges für „wichtige“ Persönlichkeiten hergestellt. Im 2.Weltkrieg wurden vor allem Rüstungsgüter hergestellt, mit Hilfe von Zwangsarbeit, die von Kriegsgefangenen und KZ-Häftlingen geleistet wurde.
Erst nach dem Krieg begann die PKW-Produktion unter Federführung der britischen Militärregierung. Der erste Käfer wurde bereits 1945 hergestellt, ab 1946 konnten auch Privatleute das Auto zum Preis von 5.000 Mark kaufen. Nach der Währungsreform wurde das Unternehmen von der Militärregierung in die Treuhandschaft des Landes Niedersachsen übergeben mit der Auflage, es gemeinsam mit dem Bund weiter zu führen sowie den Gewerkschaften als unfreiwilligen Finanziers des Unternehmens großen Einfluss zu gewähren.
1960 wurde das Unternehmen privatisiert, indem 60% der Anteile als Volksaktien im Gesamtnennwert von 360 Mio. DM an Privatpersonen verkauft wurden. Mit dem sog. VW-Gesetz wurde der öffentlichen Hand trotz Minderheitenposition entscheidender Einfluss gesichert. Dort ist vor allem festgelegt, dass kein Anteilseigner Stimmrechte von mehr als 20 Prozent ausüben darf, so dass das Land Niedersachsen, das immer noch 20,2 Prozent der Stammaktien hält, in der Hauptversammlung eine Sperrminorität innehat. Zudem muss der Aufsichtsrat, dem außer den Kapitaleignern nach Mitbestimmungsgesetz auch Vertreter*innen der Beschäftigten angehören, mit einer Zwei-Drittel-Mehrheit der Errichtung und Verlegung von Produktionsstätten zustimmen.
Heute sind die damaligen Volksaktien zu etwas über 42% im sog. Streubesitz, d.h. in der Hand von kleineren Aktionären. Die wesentlichen Kapitalanteile liegen in der Hand der Porsche Holding SE (32%), ausländischer institutioneller Investoren (20%) des Emirats Qatar (10%) des Landes Niedersachsen(12%). Die Stimmrechte dagegen hat zu über 53% die Porsche Holding, zu 17% Qatar, zu 20,2 % beim Land Niedersachsen. Nur noch knapp 10% der Stimmrechte liegen bei Kleinaktionären. Die zwischen Kapitalanteilen und Stimmrechtsanteilen unterschiedlichen Prozentsätze haben damit zu tun, dass es bei VW zwei unterschiedliche Aktientypen gibt: sog. Stammaktien, die mit einem Stimmrecht auf der Hauptversammlung des Unternehmen verbunden sind, und sog. Vorzugsaktien, deren „Vorzug“ darin besteht, nicht über Stimmrecht zu verfügen, die dafür aber mit einer geringfügig höheren Dividende bedient werden. Kapitalanleger, die Mitwirkungsinteressen haben wie die Porsche Holding SE und das Land Niedersachsen, halten Stammaktien, Kleinaktionäre, denen es vor allem um Dividenden geht, besitzen dagegen Vorzugsaktien. Damit kann ein Großaktionär das Unternehmen dominieren, auch wenn er vom Gesamtkapital deutlich weniger als 50% Kapitalanteile besitzt.
Die Porsche Holding SE, die von den Familien Porsche und Piech dominiert ist, hält Stammaktien, die zwar nur 32% des Gesamtkapitals ausmachen, aber mit einem Stimmrechtsanteil von etwa 53% die verfügende Mehrheit des Unternehmens ausmachen. Hintergrund dieser Tatsache ist die zunächst gescheiterte, später aber doch vollzogene Kapitalzusammenführung von Porsche und Volkswagen unter der Regie der Familien Porsche und Piech. Dabei waren es vor allem der damalige Porsche-Vorstand Wendelin Wiedeking und der seit 1993 als VW-Vorstand tätige Ferdinand Piech, die zunächst gemeinsam, später dann aber als Kontrahenten die Drahtzieher der letzlich doch von VW dominierten Zusammenführung waren.
Genug Geschichte, auch wenn sie vieles erklärt, was VW ausmacht: Ursprünglich ein Staatsunternehmen, das nach dem Krieg eine besondere Verfassung hatte und eine kooperative Unternehmenskultur entwickelte, die stark von sozialen und politischen Aspekten bestimmt wurde. Nach der letztlich nur formal gescheiterten Übernahme durch Porsche konzentriert sich die Entscheidungsmacht jetzt aber bei einem großen Eigentümer und weist heute nur durch die Bestimmungen des VW-Gesetzes und die darin aufgewertete Mitbestimmung der Arbeitnehmer im Aufsichtsrat Besonderheiten auf. Nicht zuletzt die Übertragung des Vorstandsvorsitzes an den in gleicher Position bei der Porsche AG tätigen Manager Oliver Blume signalisiert, dass inzwischen auch bei VW fast normale privatwirtschaftliche Verhältnisse herrschen.
Diese „Normalität“ wird offensichlich, wenn man die jüngsten Ereignisse betrachtet: Der Vorstand kündigt den Haustarifvertrag, der z.B. betriebsbedingte Kündigungen ausschließt, annonciert Pläne zur drastischen Kostenreduktion durch Entlassungen und Werksschließungen auch in Deutschland. Während die IG Metall mit einer Forderung von 7% Lohnerhöhung in die Tarifverhandlungen geht, fordert das Unternehmen eine Gehaltskürzung um 10%, um den wie es heißt drastischen Gewinneinbußen entgegenzuwirken. Endgültiger Abschied von der historisch gründenden kooperativen Unternehmenskultur?
Wie konnte es soweit kommen? Da ist einerseits die von der Politik angesichts des Klimawandels geforderte Umstellung von fossilen Antrieben auf E-Mobilität. Hiermit tut sich die gesamte deutsche Autoindustrie schwer, die bisher weltweit vor allem mit teuren Verbrennern ihr Geld verdient. VW hat immerhin eine reine E-Linie gebracht, die sich allerdings schwer verkauft. Da ist andererseits die Schwerfälligkeit der Willensbildungs- und Entscheidungsstrukturen, die innovative Prozesse behindert und lange Zeit benötigt, um Änderungen zuwege zu bringen. Hier hat VW mit einer relativ kurzen Entwicklungszeit von 4 Jahren für die E-Autos Boden gut gemacht. Da ist tatsächlich eine Kostensituation, die internationale Wettbewerber im Vorteil sieht. Da sind vergangene Sünden und Managementfehler (z.B. der sog. Dieselskandal), die dem Unternehmen erhebliche Imageeinbußen und hohe Kosten beschert haben und sich bis 2021 auf ca. 32 Mrd. Euro belaufen.
Da ist aber auch der Fakt, dass VW mit seinem bisherigen Angebot jahrelang sehr gut verdient hat. In den Jahren 2019 bis 2023 verzeichnete VW Gewinne nach Steuern von insgesamt 67,4 Mrd. Euro, mehr als dreimal so viel wie in den 10 Jahren davor. Und 2024 ein Gewinneinbruch um 64% auf „nur“ noch 1,58 Mrd. Euro im Quartal. Das ist immer noch ein höherer Quartalsgewinn als z.B. 2003 bis 2005 im ganzen Jahr. Krise? Echt jetzt?
VW-Aktionäre, vorrangig die vier großen, haben ebenfalls jahrelang gut verdient. Selbst in schlechteren Jahren betrug die Dividende mehr als 5% und machte 2021 den ersten großen Sprung, 2023 sogar auf 10,24%. Die Vorstände bekommen jährliche Vergütungen von bis zu 10 Mio. Euro im Jahr, während der durchschnittliche Beschäftige ca. 55.000 Euro pro Jahr verdient. Damit liegt der Vorstandsvorsitzende beim 200fachen des Durchschnittsgehalts. Kosten zu hoch? Wie wäre es damit, Kapital und Arbeit einmal gleich zu behandeln und Kosteneinsparungen, wenn sie denn als notwendig angesehen werden, auf allen Seiten vorzunehmen, bei den Arbeitnehmern, den Managern und den Eigentümern?
Ja, die wirtschaftliche Situation der Autoindustrie ist nicht einfach. Das konstatieren auch die einschlägigen Experten. Angesichts des Klimawandels scheint ein weiteres Umsatzwachstum kaum realistisch. Die fernöstliche Konkurrenz hat erheblich aufgeholt. Und weil es den Europäern und damit auch VW offenbar nicht gelingt, in Vorleistung zu gehen und auch ohne staatliche Prämien bezahlbare E-Autos zu auf den Markt zu bringen, wird das vermutlich auch so bleiben.
Aus Nachhaltigkeits-Perspektive muss man allerdings sagen: Wenn das den Einstieg in den Rückgang der privaten Automobilität mit Verbrenner- oder Hybrid-PKWs signalisiert, dann ist es gut so. Wir müssen umkehren. Wir müssen den öffentlichen Verkehr massiv aus- und umbauen und den privaten rückbauen, ob mit oder ohne E-Autos. Wir müssen ganz generell unser Mobilitätsverhalten überprüfen. Die automobile Gesellschaft hat keine Zukunft. Die Autoindustrie und auch VW haben diese Imperative viel zu lange geleugnet oder verdrängt.
Dabei hatten sie, als der Begriff noch positiv konnotiert war, von 1991 bis 1993 einen Querdenker als Topmanager, der das Unternehmen zu einem Mobilitätsdienstleister umgestalten wollte, ohne dafür allerdings viele Mitstreiter zu finden, und der daher nach nur zwei Jahren entlassen wurde. Selbst der verstorbene damalige Vorstandsvorsitzende Ferdinand Piech, nicht gerade ein Öko, fuhr 2002 mit einem von VW entwickelten 1-Liter-Verbrenner bei der Hauptversammlung vor. Das Auto wurde nie in Serie gebaut. Mit dem Elektro-Großraum-Ruftaxi Moia hat VW sogar aktuell ein zukunftsfähiges Angebot im Programm, das den Weg in Richtung quasi-öffentlichem Ruf-Verkehr weist.
Von einem der weltweit führenden Automobilkonzern zu erwarten, sein Geschäftsmodell von sich aus grundlegend umzustellen, wie dies Daniel Goeudevert 1991 vorhatte, scheint heute immer noch wenig realistisch. Die aktuelle Krise wird vom Unternehmen aus meiner Sicht allzu sehr aufgebauscht. Als bewusster Einstieg in den Ausstieg kann das jetzige Verhalten leider nicht verstanden werden. Aber auch Volkswagen wird irgendwann einsehen: Angesichts der massiven Schäden, die private Verbrenner-Mobilität weltweit im Ökosystem anrichtet, wird die Branche sich grundlegend verändern und erheblich schrumpfen müssen. Da beißt sie Maus keinen Faden ab.