Digitalisierung nachhaltig?

 

  Als älterer Mensch, der in seinem Berufsleben noch die IBM Kugelkopf-Schreibmaschine als bahnbrechende Innovation erlebt hat, kommt man zugegeben manchmal nicht hinterher: Jetzt kann man auch die Parkuhren nicht mehr mit Münzen füttern und bekommt dafür einen Parkschein ausgedruckt. Nein, alles geht nur noch per Handy. Parkscheine gibt’s nicht mehr. Versprochen wird dafür eine umfassende Dematerialisierung: Man braucht nur noch das Smartphone, sonst nix. Stimmt das? Ist Digitalisierung eine Nachhaltigkeitsinnovation?

  Während meines Studiums zwischen 1967 und 1972 hielten die Rechenmaschinen Einzug in die Universitäten. Wir lernten Cobol und Fortran, schleppten unsere Lochkarten ins Rechenzentrum und erhielten am nächsten Morgen mit Nadeldruckern hergestellte Ausdrucke unserer Werke. Die Rechner füllten ganze Säle, Lochkarten und Ausdrucke stapelten sich zu Bergen und einige Kommilitonen kamen schon richtig gut damit zurecht. Lang ist‘s her

  Inzwischen haben wir den Siegeszug der Informatik, diverse Varianten von Rechnern bis hin zum Smartphone, die digitale kabellose Verknüpfung von Menschen, Maschinen, Unternehmen und Staaten über Internet, Wlan und Bluetooth erlebt und, was die älteren von uns angeht, zum Teil auch erlitten. Digitale Nomaden und Home Office haben die Arbeitswelt verändert. Immer mehr Leistungen werden überwiegend oder ausschließlich online erbracht. Und die Entwicklung schreitet immer noch voran, eher schneller als langsamer. Wir kaufen im Internet, wir kommunizieren dort mit immer mehr sog. Freunden oder Followern. Jede/r kann bei Facebook, Twitter, Instagram und Co. alles hineinstellen, was sie/er für mitteilenswert ansieht, gleichgültig, ob sie/er irgendeine inhaltliche Kompetenz dazu hat oder nicht. Was man nicht online stellt, führt nur noch ein Nischendasein. Die Grenzen zwischen digitaler und wirklicher Welt verschwimmen.

 Verbunden mit dieser Entwicklung ist die grenzenlose, oft scheinbar kostenlosenlose Öffnung unermesslich vieler Informationen für alle, wenn nicht totalitäre Machthaber den Zugang unterbinden. Damit verbunden ist aber auch die nahezu vollständige „Freiheit“ für die Übermittlung von Falschinformationen, von Verleumdungen und Hasstiraden, von kriminellen Aktivitäten jeder Art. Fast jeder User ist schon mindestens einmal Opfer eines Betrugsversuchs geworden.

  Als grenzenloses Medium ist das Internet der staatlichen gesetzlichen Regulierung nur schwer zugänglich. Und Nerds wie Neu-Twitter-Eigner Elon Musk sind sowieso dagegen. Allerdings sind ernsthafte Regulierungsmaßnahmen zumindest in Deutschland bisher eher zögerlich unternommen worden. Nicht einmal die angemessene Besteuerung der kommerziellen Internetgiganten gelingt. So ist das digitale Netz zu einem Raum für alles geworden, für Drogen-, Menschen-, Waffen- und sonstigen kriminellen Handel, für die schlimmsten Formen von Unmenschlichkeit, für die widerlichsten Formen von Pornographie .... Nicht dass es nicht das alles auch ohne Internet geben würde und gibt, aber die weltweite Zugänglichkeit von allem für alles und die Unüberschaubarkeit des Systems insgesamt schaffen Raum zu posten, was man ohne Internet nur einem kleinen Kreis von Bekannten und Stammtischfreunden hätte übermitteln können. Flugs gewinnt man viele Gleichgesinnte und neue „Freunde“, worunter alte echte Freundschaften zuweilen leiden. Computerspiele boomen und entfalten hohes Suchtpotential.

 Zudem macht das Netz angreifbar. Wer sich auskennt, kann sich Zugang zu eigentlich geschützten Bereichen verschaffen, kann diese ausforschen und/oder (zer)stören. Daten werden gehackt. Unternehmen und Staaten werden erpresst. Kriegerische Aktivitäten verlagern oder verlängern sich ins Netz. Demokratische Wahlen wie z.B. die U.S.-Wahlen 2017 und 2021 werden von totalitären Staaten beeinflusst, so dass sich nicht Volkes Wille darin äußert sondern der Wille desjenigen, der am besten auf der Klaviatur des Internets zu spielen vermag.

 Weil es in diesem Blog um Nachhaltigkeit geht, also um den Einfluss verschiedener Entwicklungen auf unsere natürlichen Lebensgrundlagen und das gleiche Nutzungsrecht an diesen für alle Weltbürger (Blo-Verweis), sollen die sozialen und politischen Aspekte nicht weiter vertieft werden, zumal ich nicht wirklich Experte dafür bin, was das Netz alles so mit sich bringt. Stattdessen möchte ich mich den Nachhaltigkeitsversprechen zuwenden, die von Anbeginn mit der Digitalisierung verbunden waren und sind. Wie heißen sie nicht alle, die entsprechenden Prophezeiungen;

 ·         papierloses Büro (so ging’s los)

 ·         Miniaturisierung der Geräte und Anlagen

 ·         Ersatz von Reisen durch Videokontakte

 ·         Verringerung der Fahrten zum Arbeitsplatz durch Homeoffice

 ·         schier unbegrenzte Effizienzsteigerungen

 ·         Energieeinsparungen z.B. im „smart home“

  Die Liste ist unvollständig, denn die Versprechungen waren und sind Legion. Digitalisierung ist das Fortschrittsprojekt schlechthin, das daher naturgemäß viele andere Probleme der Welt wie etwa Klimawandel, Ressourcenschwund usw. zumindest nicht negativ beeinflussen sollte. Tut es aber doch, wie wir sehen werden.

  Es beginnt beim Thema Energie. Allein das Internet in Deutschland beansprucht pro Jahr 13 TWh. (1 Terawattstunde = 1 Milliarde Kilowattstunden), etwa sechsmal so viel wie alle Münchener Privathaushalte zusammen. Allerdings wird versprochen, bei Umstellung auf Glasfaser würde sich der Verbrauch signifikant reduzieren. Bereits 2014 betrug der Stromverbrauch des Netzes 4,6 % des weltweiten Stromverbrauchs. Wäre das Internet ein Land, läge es damit auf der Verbraucherliste auf Platz 6 hinter China, den USA, der EU, Indien und Japan. Und nur ein Bruchteil davon ist „grüner“ Strom.

  Durch künftige Steigerungen der Nutzerzahlen und der Nutzungsdauer pro Nutzer (insbesondere infolge des Wachstums der sog. sozialen Netzwerke und des Streaming-Booms von Filmen, Serien und Musik) schätzen Experten, dass der Stromverbrauch insbesondere von Datenzentren stark wächst. Eine Studie der TU Dresden prognostizierte im Jahr 2011 für 2030 einen Stromverbrauch allein der Informations- und Kommunikationstechnik von der Größenordnung des damaligen Gesamtstromverbrauchs der Welt.

  Das ist allerdings bei weitem nicht alles. Bevor überhaupt die Geräte zur Nutzung des Netzes und anderer digitalisierter Systeme verkauft werden, ist bereits jede Menge Energie für deren Herstellung aufgewendet worden. Die Herstellung eines simplen Desktop PC verschlingt das 10fache an Energie, die der PC im Durchschnitt während seiner kompletten Nutzungszeit im Betrieb verbraucht. Da Computer, Smartphones usw. überwiegend in China und anderen südostasiatischen Ländern hergestellt werden (beim I-Phone sind es z.B. 85%), handelt es sich auch bei der für die Herstellung aufgewendeten Energie überwiegend um graue Energie, die aus fossilen Quellen gewonnen wird und so endliche Ressourcen übernutzt und das Klima negativ beeinflusst.

  In Bezug auf den Materialverbrauch ist das Verhältnis noch krasser: Nur 2% des insgesamt für einen PC notwendigen Materials werden zum Produkt. 98% sind bereits zum Zeitpunkt der Fertigstellung Müll: Abraum der Rohstoffgewinnung, Abfall im Fertigungsprozess usw. Insbesondere die Gewinnung der sog. Seltenen Erden belastet die Umgebung der Minen in erheblichem Umfang durch giftige Schlämme und Rückstände, so dass diese Stoffe wiederum vor allem in Ländern gewonnen werden, deren Regierungen es mit dem Umweltschutz nicht so genau nehmen.

  Auch die Geräte selbst werden am Ende ihrer Nutzungsdauer zu Müll. Einer Studie der NGO Step Initiative der UN University zufolge beträgt weltweit die Menge des sog E-Waste über 65 Mio. to, dem 200fachen des Gewichts des Empire State Buildings. Da E-Waste, vor allem auf den Müll geworfene Computer und Smartphones, jedoch extrem giftig ist, handelt es sich hierbei keineswegs nur um ein Mengenproblem. Denn eine stoffliche Wiedergewinnung von einzelnen Bestandteilen im Sinne der Kreislaufwirtschaft findet kaum statt. Stattdessen werden die Abfälle vor allem in Drittweltländern auf Müllkippen verbracht und schädigen dort Menschen und Natur, während sich z.B. Europa schadlos hält durch strenge interne Auflagen für das eigene Recycling, die im Effekt kaum mehr sind als eine versteckte Förderung des Giftmüllexports.

  Wenden wir uns nun aber den oben aufgeführten weiteren Nachhaltigkeitsversprechen zu. Sie treffen nämlich tatsächlich hier und da zu. Digitalisierung kann Papier sparen, wenn die Nutzer nicht jede E-Mail ausdrucken. Und das tut heute wirklich kaum mehr jemand. Echte Briefe schreiben die Menschen heute immer weniger. Das spart Papier und Porto. Stattdessen bestellen sie aber immer mehr Waren online, die ihnen dann per Paket ins Haus geschickt und zu nicht unerheblichem Teil wegen Nichtgefallens wieder an den Versender zurückgeschickt werden. Verpackt in Pappkartons. Ergebnis: Die Pappe-Produktion boomt.

 Viele Geräte werden tatsächlich immer kleiner, auch weil die Chips immer leistungsfähiger werden. So ist ein Smartphone auch ein Internetradio und ein Fotoapparat, obwohl es viel kleiner ist als ein normales Radio oder eine Kamera. Und was tun die Nutzer? Sie streamen auf Teufel komm raus Podcasts und Filme und sie fotografieren, zigmal mehr als mit ihren alten schweren Kameras.

  Auch Videokonferenzen und Homeoffice haben stark zugenommen, gefördert durch Corona und die damit verbundenen staatlichen Beschränkungen. Die Digitalisierung macht’s möglich. Dadurch wird Straßen- und Luftverkehr reduziert. Tatsächlich führt das per Saldo zu geringeren CO2-Belastungen als die üblichen Dienstreisen und Wege zum Arbeitsplatz, zumindest wenn die Nutzer ihre Kameras bei Videokonferenzen nicht dauerhaft eingeschaltet halten.  Wie andauernd diese Entlastungen sein werden, muss allerdings erst die Zeit „nach Corona“ zeigen, falls es eine solche überhaupt geben wird.

  Und wie ist es mit weiteren Effizienzgewinnen und Energieeinsparungen? „Smart home“, die Möglichkeit, über eine App oder andere Steuerungselemente auf die Haushaltsgeräte zuzugreifen und diese zu steuern, ist eine ambivalente Entwicklung. Denn was z.B. durch Vermeidung unnötiger Raumheizung und Beleuchtung an Energie gespart werden kann, wird nicht selten allein durch die Herstellung und Verwendung der dafür notwendigen digitalen Geräte überkompensiert. Touch-Displays, Tablets, Smartphones oder Sprachassistenten wie beispielsweise Alexa oder Siri müssen hergestellt werden. Dann werden sie natürlich auch häufig genutzt, was seinerseits ökologische und soziale Kehrseiten hat wie etwa die Möglichkeit für Anbieter wie Amazon, ins Privatleben ihrer Kunden einzudringen. Alle oben beschriebenen ökologischen Kehrseiten treffen hier also auch zu. Tolle neue Geräte erzeugen den Wunsch, sie auch dauernd zu nutzen.

 Viele neue Produkte und Leistungen werden überhaupt nur möglich oder zumindest erheblich erleichtert durch die Existenz des Internets. Uber und Airbnb sind Geschäftsmodelle, die nur per Internet funktionieren. Auch die E-Roller-Vermietung in den großen Städten funktioniert nur über das Netz. Fast alle diese neuen Produkte sind jedoch alles andere als nachhaltig. Sie bewirken vor allem eine erhebliche Ausweitung der Nutzung von Mietautos, Tourismus und Mobilität.

  Nicht übersehen werden sollen die Internet-Angebote, die zumindest die Chance dafür bieten, dass nicht jeder alles für sich allein kaufen und nutzen muss, sondern dass Mehrfachnutzung, Tausch- und Kooperationsmöglichkeiten eröffnet und verbreitet werden. Dazu gehört als prominentes Beispiel e-bay, wenn es denn für second-hand-Angebote und nicht für kriminelle Abzocke genutzt wird. Es gehören Tauschringe, Nachbarschaftshilfen und andere nicht-kommerzielle Netzwerke dazu. Hier wird nicht nur Gemeinschaft gefördert, sondern auch Ressourcenverbrauch reduziert. Auch für Unternehmen bieten sich Möglichkeiten zur Kooperation z.B. über die Nutzung von Abfällen des einen als Sekundärrohstoffe des anderen. Die Google-Konkurrenz-Plattform ECOSIA bietet ihren Nutzern das Angebot, die Nachhaltigkeit über Baumpflanzaktivitäten zu fördern, die aus den Gewinnen der Plattformbetreiber finanziert werden.

  Zusammengefasst: Digitalisierung ist die dominante Modernisierungsformel von Gegenwart und Zukunft. Politiker versuchen sich zu übertreffen in Forderungen nach politischer Digitalisierungsförderung. Schon in der Regierung Merkel gab es seit 2018 eine Staatsministerin für Digitalisierung. Die Ampelkoalition hat die Zuständigkeiten im Verkehrsministerium zusammengefasst. Unter seiner Leitung sollen resortübergreifend „feste ressort- und behördenübergreifende agile Projektteams und Innovationseinheiten“ die Digitalisierung voran bringen, wie es in schönem Marketing-Sprech im Koalitionsvertrag heißt.

 Tatsächlich ist die umfassende Digitalisierung unserer Welt aber ein Projekt mit erheblichen Fallstricken und bereits heute erkennbaren Schadwirkungen auch für eine nachhaltige Entwicklung. Sie erleichtert und beschleunigt vieles. Sie beinhaltet erhebliche Effizienzpotentiale, aber sie fördert auf diesem Wege Nutzungssteigerungen in großem Umfang, so dass die Nachhaltigkeitswirkungen insgesamt deutlich negativ ausfallen. Und wieder grüßt der Rebound-Effekt.

  Zudem haben weltumspannende Konzerne das Netz und die zu seiner Nutzung notwendigen Geräte und Anlagen nahezu vollständig unter ihre Fittiche genommen und beherrschen es nach Belieben. Open Space ist nur noch eine Randerscheinung. Wie heißt es in den Asterix-Comics: Ganz Gallien stand unter der Herrschaft der Römer, nur ein kleines Dorf im äußersten Nordwesten leistete beharrlich und erfolgreich Widerstand! Auch bei der Digitalisierung wird es viele kreative widerständige Asterixe, Obelixe und Miraculixe brauchen, damit das Projekt eine nachhaltige Welt fördert und nicht verhindert.