Mit Innovationen zur Nachhaltigkeit?

 

Als 2019 die Fridays-for-future-Demonstranten ihre wohlbedachten Forderungen nach einem zügigem Ausstieg aus fossilen Energieträgern artikulierten, gab FDP-Chef Christian Lindner ihnen den „väterlichen Rat“, den Weg in eine nachhaltige Zukunft sollten die jungen Menschen lieber Profis wie ihm überlassen, die am besten wüssten, dass vor allem Innovationen notwendig seien, um eine Nachhaltige Wirtschaft auf den Weg zu bringen. . Das aktuelle Osterpaket des grünen Wirtschaftsministers Robert Habeck zur Förderung der Energiewende versteht sich daher auch vor allem als Konzept zur Beseitigung von Innovationshindernissen. Innovationen sind für viele die Zauberformel, wenn nach dem Bauplan für den nachhaltigen Umbau der Wirtschaft gefragt wird. Ist das wirklich eine tragfähige Option?

 

  Eines ist unstrittig: Innovationen treiben die wirtschaftliche Entwicklung. Joseph Schumpeter (Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung) führte den Begriff bereits 1911in die wirtschaftswissenschaftliche Diskussion ein und verstand darunter die Durchsetzung einer technischen oder organisatorischen Neuerung bei Produkten oder im Produktionsprozess, also die Markteinführung einer Neuerung. Er schrieb vor allem Unternehmensgründern die Kraft zu, auf dem Weg der „schöpferischen Zerstörung“ verkrustete Strukturen aufzubrechen und so den wirtschaftlichen Fortschritt voran zu treiben. Damit stieß er eine Fachdebatte an über die Frage, welche Bedingungen besonders innovationförderlich sind, welche dagegen Innovationen hemmen und damit den wirtschaftlichen Fortschritt behindern.

  Bis heute ist die Beschwörung der fortschrittsfördernden Kraft wirtschaftlicher Innovationen ungebrochen. Innovationen befördern danach nicht nur den Fortschritt, indem sie Wirtschaftswachstum generieren und damit den materiellen Wohlstand voranbringen. Sie sind der Generalschlüssel zur Modernisierung von Wirtschaft und Gesellschaft. Auch die neu gewählte Bundesregierung betont gleich zu Anfang ihres Koalitionsvertrags deren zentrale Rolle: „Wir haben Lust auf Neues und werden technologische, digitale, soziale und nachhaltige Innovationskraft befördern.“ Und etwas weiter unten: „Deutschland ist Innovationsland. Starke Wissenschaft und Forschung sind dabei die Garanten für Wohlstand, Lebensqualität, sozialen Zusammenhalt und eine nachhaltige Gesellschaft.“ Das klingt nicht nur danach, dass Innovationen neue Marktangebote hervorbringen, sondern dass sie darüber hinaus der ganzen Gesellschaft einen Schub in Richtung des sozialen Ausgleichs und der nachhaltigen Entwicklung geben können und dank der politischen Bemühungen der Ampel auch geben werden.

  Da fühle ich mich als pensionierter Wissenschaftler regelrecht aufgerufen, einmal genauer hinzusehen, was denn diese Superkraft der Innovationen so in den vergangenen Jahrzehnten hervorgebracht und bewirkt hat. Denn Innovationen gab es ja auch in grauer Ampel-Vorzeit schon und als alter Mensch habe ich sogar aus eigenem Erleben ein paar von ihnen am eigenen Leibe erfahren dürfen. Lasst uns also ein bisschen „oral history“ betreiben, also historische Erfahrungen aus dem eigenen Leben wissenschaftlich aufbereiten.

 Die unmittelbare Nachkriegszeit war in Deutschland vom wirtschaftlichen Wiederaufbau gekennzeichnet. Nichts Neues, einfach das Alte erst mal wiederherstellen. Trotz anfänglicher Versuche der Siegermächte, ein Wiedererstarken der deutschen Wirtschaft in Ost und West zumindest zu behindern, gelang dies dank des tatkräftigen Anpackens der gesamten Bevölkerung recht zügig. Die Aufteilung in Ost und West-Deutschland hatte zwar zur Folge, dass unter dem Einfluss der USA bzw. der UdSSR unterschiedliche Wege eingeschlagen wurden, die trotz Wiedervereinigung bis heute nachwirken. Die Richtung der wirtschaftlichen Entwicklung aber war dieselbe: Wirtschaftswachstum und in dessen Folge wachsender materieller Wohlstand für die allermeisten Menschen. Mehr von allem für alle, wenn auch von Anfang an und dann vor allem in Westdeutschland in wachsendem Maße ungleich verteilt!

  Und Innovationen? Zunächst musste mit intensivem Arbeitseinsatz wiederaufgebaut werden, was der Krieg zerstört hatte. In der Bauwirtschaft, der Landwirtschaft und in der weitgehend zerstörten Industrie hieß es Ärmel aufkrempeln und anpacken. Weil viele Männer nicht aus dem Krieg zurückgekommen waren, bauten Trümmerfrauen die Städte wieder auf.

  Der größte Teil der technischen Neuerungen, die das Leben zum Teil fundamental verändert hatten, war bereits in der Welt: Buchdruck, Dampfmaschine, Elektrizität und Funktechnik, um nur einige solcher sog. Basisinnovationen zu nennen, waren zum Teil bereits lange vor den Weltkriegen bekannt und genutzt.  In den durch diese Techniken entstandenen Anwendungsbereichen lässt sich ein kontinuierliches Muster erkennen: der stetig zunehmende Einsatz von Technik. Maschinen halfen, körperliche Arbeit zu erleichtern, aber zunehmend wurde auch menschliche Arbeit durch Maschinerie ersetzt. Sowohl im Produktionsprozess als auch im täglichen Leben hielten immer mehr Maschinen Einzug. Das „Wirtschaftswunder“ erfasste die Gesellschaft. Die Wirtschaft versuchte den Arbeitskräftemangel, der sich bald offenbarte, sowohl durch Maschinerie als auch durch sog. Gastarbeiter zu bewältigen. Die Gewerkschaften konnten Lohnerhöhungen durchsetzen. Die Menschen konnten sich wieder etwas leisten, konsumieren und in den Urlaub fahren. „Immer mehr“ war und ist seitdem die von den meisten unhinterfragte Maxime.

  In der durch Arbeitszeitverkürzungen neu gewonnenen Freizeit griff zunehmend die Motorisierung Platz. Kabelgebundene Telefonie, Kino, Radio und Fernsehen setzten sich in wachsendem Umfang durch und ersetzten immer mehr die bis dahin gepflegten direkten persönlichen Beziehungen in Kirchengemeinden, Vereinen und anderen Gemeinschaften. Sichtbar wachsender Konsum wurde zum äußeren Zeichen des sozialen Status der Menschen: Nicht nur mehr, sondern auch schneller, höher, besser hieß das Motto.

  Das Innovationsmuster Substitution von Arbeit durch Kapital hat einen Zwillingsbruder, den man Arbeitserleichterung oder Bequemlichkeitszuwachs nennen kann. In vielen Arbeitsprozessen erbringen immer weniger Menschen immer mehr marktgängige Leistungen, und sie tun dies mit immer weniger körperlichen Anstrengungen. Es ist die Konkurrenz zwischen Wettbewerbern, die die Unternehmen dazu veranlasst, für ihre Kunden neue attraktive Lösungen zu entwickeln, die diesen Trend fortschreiben: immer weniger Arbeitseinsatz, immer mehr Produkte. Und das nicht nur im Produktionsprozess, sondern auch im täglichen Leben. Wenn Maschinen die Hausarbeit übernehmen, gewinnen die Menschen Freizeit, wie immer sie diese verbringen. Und sie neigen dazu, bequemer zu werden. Anstrengungen sind vielleicht im Sport noch gefragt, bei der Lohn- und Hausarbeit aber eher nicht.

  Sozioökonomisch darf ein dritter Effekt nicht übersehen werden. Wenn Arbeit durch Kapital ersetzt wird, dann steigt zunächst nur das Kapitaleinkommen und das Arbeitseinkommen stagniert oder sinkt. Denn das Kapital befindet sich im Privatbesitz von Unternehmerinnen und Unternehmern, nicht im Gemeineigentum. Und die Arbeit wird von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern geleistet, die nur dann das gleiche oder vielleicht sogar mehr Einkommen erzielen können, wenn sie dies in Tarifauseinandersetzungen erkämpfen und/oder wenn die Wirtschaft insgesamt wächst und dadurch Verteilungskämpfe abgemildert werden. Wirtschaftswachstum ist also dann ein Effekt von Innovationen dieses Musters, wenn der Ersatz von Arbeit durch Kapital durch „moderate“ Lohnerhöhungen aufgefangen werden kann. Dann können sowohl Kapitaleigner als auch Arbeitnehmer mehr bekommen und Letzteren fällt nicht so auf, wieviel mehr auf der anderen Seite dazugekommen ist.

  Maschinisierung gewinnt dann weitere Kraft, wenn sie sich zur Automatisierung entwickelt und wenn Produktionsprozesse dadurch nahezu ohne menschliche Beteiligung vonstattengehen. Während sich die Maschinisierung über mehrere Jahrzehnte als ein Vorgang schrittweiser Entwicklung von Neuerungen vollzog (sog. inkrementelle Innovation), stellen die Automatisierung und in der jüngeren Vergangenheit die Digitalisierung sog. Sprunginnovationen dar, die Produktionsprozesse und Produkte fundamental verändern und etwas generieren, das vorher noch nicht vorhanden war. Automaten nehmen den Menschen Tätigkeiten nahezu vollständig ab, die vorher nicht ohne menschliches Zutun vollzogen werden konnten. Die Digitalisierung bringt Systeme und Anwendungen hervor, die es ohne sie überhaupt nicht geben würde: E-mails, Online-Shopping, Streaming-Angebote, „Soziale“ Netzwerke. Schon wird daran gearbeitet, dass es selbstfahrende Motorfahrzeuge und sich selbst steuernde industrielle Prozesse geben wird, die völlig ohne Menschen vonstattengehen.

 Das darin steckende Innovationsmuster aber ist aus meiner Sicht stets das gleiche. Menschliche Arbeit wird durch Sachkapital ersetzt, das wiederum überwiegend privaten Eigentümern gehört und das diesen arbeitsloses Einkommen und weitgehend unbeschränkte Verfügungsmacht verschafft. Durch die Tatsache, dass nicht alle Privateigentümer von Sachkapital gleichermaßen erfolgreich wirtschaften, konzentriert sich das Kapital immer mehr in den Händen weniger Menschen. Dadurch sinkt die Zahl der Wettbewerber in den meisten Branchen erheblich. In bisher nicht bestehenden Geschäftsfeldern kommen aber auch Neugründungen hinzu, die stark wachsen, weil sich ihre Leistungsangebote zum Teil in rasender Geschwindigkeit durchsetzen. So sind z.B. heute 7 der 10 nach ihrem Börsenwert größten Unternehmen der Welt Unternehmen, die erst in diesem Jahrhundert gegründet wurden und deren Geschäftsmodell ohne Digitalisierung und Internet nicht existieren würde: Apple, Microsoft, Amazon, Alphabet (Ex-Google), Meta Platforms (Ex-Facebook), Tencent und Alibaba.

  Immer schneller, immer mehr und immer anstrengungsärmer, was den mit der Leistungserstellung und Produktnutzung verbundenen Aufwand an menschlicher Arbeit betrifft. Das ist das in der westlichen Welt praktizierte Muster wirtschaftlicher Innovationen in den letzten Jahrzehnten. Es ist ein Muster, das wenigen Menschen zu extremem finanziellen Reichtum verholfen hat, einem großen Teil der Bevölkerung in den entwickelten Ländern zu nie gekanntem, wenn auch vergleichsweise bescheidenem materiellen Wohlstand verholfen hat, dabei aber einen großen Teil der Menschheit nicht mitgenommen hat.

 Aber: Auch wenn sich viele Menschen in der sog. dritten Welt dies wünschen mögen, das westliche Innovations- und Entwicklungsmuster sollte nicht globalisiert werden. Denn es ist ein Muster, das einer nachhaltigen Entwicklung von Wirtschaft und Gesellschaft diametral entgegengesetzt ist.

 Es gibt zweifellos Innovationen, die in Richtung Nachhaltigkeit wirken, z. B. die Effizienzsteigerung bei Automotoren, die Schaffung von Stoffkreisläufen z.B. bei Papier, Stahl oder Glas oder die Entwicklung von Technologien zur Nutzung regenerativer Energie aus Wind, Sonne und Wasserkraft. Bei Effizienz-Innovationen gibt es aber nahezu immer den sog. Rebound-Effekt, der die Effizienzgewinne durch Mehrverbrauch wieder zunichtemacht. Unsere Autos brauchen zwar weniger Sprit pro Kilometer, aber wir fahren immer mehr und brauchen daher insgesamt mehr Sprit. Kreislaufsysteme und „grüne“ Stromerzeugung gehen fast vollständig auf staatliche Initiativen (“grüner“ Punkt, Dosenpfand und EEG-Gesetz) zurück, die sich nur mühsam durchsetzen, wenn und solange sie nicht von massiven Subventionen gestützt werden. Und Staaten tun sich nach allen Erfahrungen sehr schwer damit, gegen die Bremsversuche der etablierten Wirtschaftskräfte neue Strukturen so wirksam zu fördern, dass sie sich zügig durchsetzen.

  Das aber ist nötig, wenn diese Innovationen zu Musteränderungen führen sollen. Sollen sie Nachhaltigkeitsinnovationen sein, dann müssen neue Muster Platz greifen: weniger, langsamer und vielleicht sogar zurück. Z.B. zu kleinräumigen kooperativen Wirtschaftsstrukturen und zu regionaler Selbstversorgung anstatt einer Globalisierung, die nicht Hunger und Krieg verhindert, sondern eher fördert. Nahezu alle bisherigen Innovationen haben vor allem Wirtschaftswachstum und die Konzentration von Reichtum und Macht in den Händen Weniger befördert. Nachhaltige Entwicklung muss diesen Trend umkehren, wenn sie ein gutes Leben für möglichst viele Menschen bei Erhaltung der menschlichen Lebensgrundlagen erreichen will. Dass sich die Politik ernsthaft auf den Weg gemacht hat, diese Umkehr systematisch zu fördern, vermag ich bisher nicht zu erkennen. Sie hätte durchaus die Macht dazu, auch gegen die Beharrungskräfte in der Bevölkerung wichtige Innovationen durchzusetzen. Sowohl der Sicherheitsgurt im Auto als auch das Rauchverbot in Kneipen und Restaurants sind beredte Beispiele. Beide Ge- bzw. Verbote werden heute vom weit überwiegenden Teil der Bevölkerung nicht nur akzeptiert, sondern begrüßt und für gut befunden. Auf also, Politik, nicht nur schnacken, sondern anpacken.