Fakten - Meinungen - Perspektiven

  Treffen sich zwei Menschen irgendwo im Wald, die eine ausgeruht und frisch am Beginn einer Wanderung, der andere müde und abgekämpft nach einer langen beschwerlichen Tour. Beide sehen die volle Trinkflasche, die die Ausgeruhte am Rucksack hat. Der eine sieht darin Erlösung von heftigem Durst, die andere ein Ruhekissen, dass es gar nicht zum Durst kommt.

  Der eine braucht, die andere hat. Der eine geht voran, die andere bremst. Manche sind zuversichtlich, andere fürchten sich. Von ein und denselben Fakten sind keineswegs alle gleichermaßen berührt. Auch die Meinungen verschiedener Menschen gehen oft weit auseinander, je nach der jeweiligen Perspektive, die sie haben. So gibt es nicht selten ein Gegeneinander, auch wenn ein Miteinander möglich wäre und alle profitieren würden. Das gilt auch und gerade in Bezug auf die Abwehr von nicht mehr korrigierbaren Umweltschäden.

 

  Als ich Anfang der 90er Jahre mit meiner wissenschaftlichen Arbeit zum Thema betriebliches Umweltmanagement begann, bekamen meine Mitarbeiter*innen und ich den Auftrag des Hessischen Wirtschaftsministeriums zu untersuchen, wie das damals neu eingeführte betriebliche Umweltmanagementsystem EMAS (Environmental Management and Audit Scheme) in den ersten dran teilnehmenden Unternehmen umgesetzt wurde und welche Erfahrungen gesammelt wurden.  

  Die Ergebnisse waren ziemlich ernüchternd. Die meisten Betriebe gingen sehr vorsichtig vor und nutzten die Möglichkeiten des Systems nicht wirklich aus, die Kontrollbehörden waren skeptisch und befürchteten, dass die proklamierte Freiwilligkeit wenig weitreichende Ergebnisse mit sich bringen würden. Gegenseitiges Vertrauen war nicht vorhanden und wollte sich auch mit dem neuen System nicht einstellen. Daher schlugen wir einen Perspektivenwechsel vor: die betrieblichen Umweltmanager sollten Gelegenheit bekommen, bei der Arbeit der behördlichen Kontrolleure zu hospitieren. Die Behördenvertretersollten in die Betriebe gehen und dort an Umsetzungsmaßnahmen beteiligt werden. Sowohl das Ministerium als auch die Unternehmensverbände lehnten die Vorschläge ab. Wollte sich niemand in die Karten schauen lassen? Sollte die eigene Perspektive lieber nicht offengelegt werden? Wenn heute alle von Bürokratieabbau reden, wie soll der unter solchen Voraussetzungen jemals zustande kommen?

  Unsere Welt hält eine Vielzahl von Lebensumständen, gesellschaftlichen Positionen und daraus resultierenden Blickwinkeln bereit. Je nachdem wo und wie man lebt, welche Lebens- und Arbeitsbedingungen man vorfindet oder sich im Laufe der Zeit erarbeitet, welche gesellschaftlichen Rollen man innehat und wie man sie ausübt, bilden sich verschiedene Perpektiven heraus, die oft zu sehr unterschiedlichen Ansichten führen. Wenn es dann zu Gesprächen oder Auseinandersetzungen mit anderen Menschen kommt, z.B. weil Probleme zu lösen sind, findet man nur schwer oder gar nicht zueinander. Jeder pocht auf das Recht auf die eigene „Wahrheit“. Wenn aber wie derzeit die Probleme überhand nehmen und jede/r andere „Lösungen“ im Auge hat, wie lässt sich dieser Knoten entwirren?

   Um einer Antwort näher zu kommen, gilt es, glaube ich, zunächst die Ausgangslage zu klären.

   Da gibt es „objektive“ Fakten, die bitte von „subjektiven“ Meinungen zu unterscheiden sind. Auch wenn erstere keine unumstößlichen Wahrheiten darstellen, zeichnen sie sich doch dadurch aus, dass ihre Geltung mit anerkannten Methoden nachweisbar ist, von einer großen Mehrheit einschlägig kompetenter Wissenschaftler anerkannt wird und sie so lange Gültigkeit beanspruchen können, bis jemand sie widerlegt, d.h. mit wissenschaftlichen Methoden nachweist, dass sie keine Allgemeingeltung beanspruchen können. Ohne hier im Detail einzusteigen, ist der sog. Fallibilismus, auf den diese Interpretation des Wahrheitsbegriffs zurückgeht, die heute in der wissenschaftstheoretischen Diskussion am weitesten verbreitete Auffassung.  Zwar gibt es natürlich auch hier wieder abweichende Auffassungen, z.B. den sog. Konstruktivismus, der den Objektivitätsanspruch des Faktenwissens hinterfragt und auch Fakten für vom jeweiligen Betrachter selbst durch den Vorgang des Erkennens konstruiert anasieht. Doch auch diese Position erkennt an, dass es wissenschaftlich seriös belegte Fakten gibt, auch wenn sie auf allgemein geteilte Konstruktionsmethoden zurückgehen und nur insofern Allgemeingültigkeit beanspruchen können. Solche Fakten sind etwa die Hauptsätze der Thermodynamik und die Menschengemachtheit des Klimawandels.

  Davon abzugrenzen sind Meinungen. Sie sind subjektive Einschätzungen von Fakten, genau zu unterscheiden von den Fakten selbst. Während letztere überprüfbar sind, d.h. unabhängig von den Auffassungen verschiedener Menschen Geltung haben, sind Meinungen weder falsch noch richtig, sondern Ausdruck der Einschätzungen derjenigen, die diese Meinung vertreten.  Nehmen wir Beispiele: Ob Fußball die in Deutschland beliebteste Sportart ist, lässt sich durch eine Befragung der Deutschen „objektiv“ nachprüfen, ist entweder richtig oder falsch, eine Tatsachenbehauptung. Ob Wladimir Putin ein netter Kerl ist (wie der Dicke mit dem Hamster auf dem Kopf meint) oder doch eher ein Kriegsverbrecher, das kann nur jede/r für sich allein klären, ist also eine Meinungsäußerung. Allerdings gibt es schon eine Fülle von Belegen dafür, dass die letztgenannte Meinung zutrifft. Dass es den menschengemachten Klimawandel nicht gibt, ist eine falsche Tatsachenbehauptung, keine Meinungsäußerung. Dass sich jemand vom Klimawandel persönlich nicht bedroht fühlt, ist eine zulässige, allerdings reflexionsbedürftige Meinungsäußerung.

  Nun aber zurück zu den Perspektiven. Wie jemand die Welt sieht und welche Meinungen sie/er hat, das ist zwar subjektiv, aber nicht zufällig. Und wie er/sie unzweifelhafte Fakten beurteilt, ebenso wenig. Es hängt zumindest mittelbar von der gesellschaftlichen Position ab, die die Person innehat. Karl Marx hat das in seiner Kritik der Politischen Ökonomie so formuliert: „Es ist nicht das Bewusstsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewusstsein bestimmt.“  Insbesondere die materiellen Lebensbedingungen (Einkommen, Vermögen, berufliche Position) prägen die Perspektiven von Menschen auf die Welt. Ein Wohnungsloser hat ein anderes Weltbild als ein gutsituierter Rechtsanwalt, ein Jugendlicher mit Migrationshintergrund nimmt die Welt anders wahr als eine erfolgreiche Popsängerin. Wer einmal auf ein vermeintlich attraktives Bitcoin-Angebot hereingefallen, wird künftig ähnlichen Angeboten völlig anders gegenübertreten als jemand, der eine Kursverdopplung verbuchen konnte.

  Der skizzierte Zusammenhang zwischen Sein und Bewußtsein führt allerdings nicht zwangsläufig zu uniformen Sichtweisen ähnlich positionierter Menschen. Die meisten Reichen sehen sich zurecht für ihre persönlichen Leistungen belohnt und halten die Verhältnisse, die ihnen dazu verholfen haben, für in Ordnung. Es gibt aber auch einige vermögende Menschen, die ihren Reichtum für unangemessen halten und dafür eintreten, höher besteuert zu werden. “Tax the rich“, lautet ihre Forderung. Viele Managerinnen und Manager sind überzeugt, dass sie allein den Weg kennen, wie das von ihnen geführte Unternehmen zum wirtschaftlichen Erfolg geführt werden sollte und dulden keine abweichenden Meinungen ihrer Untergebenen. Es gibt aber auch Führungskräfte, die ausdrücklich zur Äußerung abweichender Auffassungen auffordern und ihre Aufgabe eher im Moderieren eines Teams verstehen als im Vorgeben strikter Anweisungen. 

  So ist also aus den materiellen gesellschaftlichen Verhältnissen heraus erklärbar, dass verschiedene Menschen unterschiedliche Weltbilder ausprägen und dass daraus konkurrierende Handlungsweisen entstehen, die durchaus konfliktär ausgetragen werden und zu sozialen Spannungen, wenn nicht sogar Spaltungen führen. Leider ist heutzutage das gesellschaftliche Gegeneinander eher die Regel als die Ausnahme. Das Beharren auf der Richtigkeit und Angemessenheit der eigenen Meinung wird im Übermaß praktiziert und führt dazu, dass immer mehr auch „alternative Fakten“ behauptet und vertreten werden, also – auf Deutsch – Lügen den gesellschaftlichen Diskurs prägen. Auch hier ein Beispiel: In der politischen Debatte um die Wahl einer neuen Verfassungsrichterin haben mehrere unzutreffende Behauptungen von AFD-Politiker*innen und verschiedenen einschlägigen Medien den Weg in die Öffentlichkeit gefunden. Als sie aufgeklärt wurden, war das Kind bereits in den Brunnen gefallen, die diffamierte Bewerberin zurückgetreten.

  Die Freiheit der Meinungsäußerung ist ein zentrales im Grundgesetz verankertes Bürgerrecht. Lügen und Diffamierungen gehören nicht dazu, denn sie beschädigen die davon betroffenen Menschen und den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Und sie beschädigen die Grundlagen des gesellschaftlichen Diskurses, indem sie systematisch das Vertrauen in die Seriosität der Kommunizierenden zerstören.

  Die Kategorie Vertrauen scheint mir in diesem Zusammenhang besonders wichtig. Denn es lässt sich beobachten, dass Vertrauen immer weniger verbreitet ist, in privaten Beziehungen, in Unternehmen und auch im sozialen Diskurs. Psychologen betonen immer wieder die große Bedeutung von Vertrauen in den persönlichen Beziehungen  und im Berufsleben und bieten Hilfen an, Vertrauen aufzubauen oder zurück zu gewinnen. Auch im sozialen Diskurs wäre es wichtig, wieder zu vertrauensvollen Auseinandersetzungen zu kommen und nicht den Vertretern anderer Meinungen zunächst mit Misstrauen zu begegnen. Das ist natürlich einfacher gesagt als getan.

  Allerdings leben wir gar nicht in der vielbeschworenen fundamental gespaltenen Gesellschaft. Eine große Mehrheit teilt gemeinsame Grundüberzeugungen. Zwar äußern viele in einschlägigen Befragungen, dass sie eine wachsende Spaltung der Gesellschaft wahrnehmen.  77 Prozent der Befragten sind der Ansicht, die Gesellschaft sei zerrüttet. 67 Prozent der Befragten meinen, dass es einen tiefen Riss zwischen normalen Bürger*innen und den politischen und wirtschaftlichen Eliten gibt. Dennoch glauben nur 24 Prozent, dass eine autokratische politische Führung, die bereit ist, Regeln zu brechen, eine wünschenswerte Lösung darstellt. 51 Prozent sprechen sich ausdrücklich dagegen aus, halten also an demokratischen Grundsätzen fest.

  Eine andere von der Diakonie in Auftrag gegebene Studie kommt zu ähnlichen Befunden. Trotz Wahrnehmung von sozialer Spaltung befürworten knapp zwei Drittel der Befragten grundsätzlich die pluralistische Demokratie und wünschen sich eine Rückkehr zu verständigungsorientiertem Diskurs. 75% setzen dabei auf eine neutrale Moderation, 58% auf Bürgerversammlungen bzw. Bürgerräte.

  Die Menschen wissen, dass Demokratie eine anspruchsvolle Gesellschaftsform ist, die aktuell im politischen Geschäft des Parlamentarismus Schaden genommen hat, weil sich nur allzu oft nicht politische Mehrheiten, sondern mächtige Wirtschafts-Lobbyisten durchsetzen und viele Berufspolitiker vor allem ihre persönliche Karriere und nicht die Förderung des Gemeinwohls im Blick haben. Zudem folgt eine wachsende Zahl der Wählerinnen und Wähler eher plakativen Versprechungen als differenzierten politischen Programmen, die auch bereit sind, die Grenzen politischer Gestaltbarkeit einzugestehen. Und die Bereitschaft, sich selbst politisch einzubringen und Verantwortung zu übernehmen, ist nur sehr eingeschränkt vorhanden. So bleibt das in den Befragungen geäußerte grundsätzliche Bekenntnis zu demokratischen Strukturen aus meiner Sicht eher unverbindlich und ist nicht wirklich handlungsleitend.

  Die Demokratie ist renovierungsbedürftig, nicht nur in Deutschland. Sie muss zu vertrauensbegründenden Auseinandersetzungsformen zurückfinden. Dazu gibt es verschiedene Vorschläge, die z.T. bereits umgesetzt wurden: Die Bereitstellung differenzierter politischer Informationen für alle, die Einführung von Volksbegehren, Volksabstimmungen, Bürgerräten und eines Vetorechts für die Bürger*innen gegen parlamentarisch beschlossene Gesetze sind die prominentesten.  Vielleicht wäre auch die zeitliche Begrenzung der Wählbarkeitszeiträume für Politiker ein probates Instrument, um die Perspektiven der Volksvertreter bürgernäher und bunter zu halten.

  Allerdings ist dafür der Abbau der immer weiter steigenden wirtschaftlichen und politischen Ungleichheit zentral. Solange es Menschen gibt, die das Vielfache des Medianeinkommens verdienen  oder ein entsprechend vielfaches Vermögen besitzen, ohne durch ihre Steuern auch nur im Ansatz angemessen zum Gemeinwohl beizutragen, wird gleichberechtigte politische Teilhabe eine Fiktion bleiben. Zu unterschiedlich sind die Perspektiven und das daraus resultierende Misstrauen der vom sozialen Status so weit voneinander entfernten Menschen.

  Nur ein Perspektivenwechsel könnte hier Abhilfe schaffen. Der vorübergehende Wechsel von Unternehmern/Managern in ausführende berufliche Tätigkeit auf niedrigeren Ebenen und umgekehrt würde es ermöglichen, Verständnis für die jeweils andere Sichtweise zu fördern und vielleicht sogar einiges von diesem Verständnis nach Rückkehr in den ursprünglichen beruflichen Status zu bewahren. Meine beruflichen Erfahrungen im Zusammenhang mit der Einführung des europäischen Umweltmanagementsystems EMAS (siehe oben) lassen mich allerdings an der Bereitschaft der Menschen zweifeln, einen Perspektivenwechsel freiwillig zu erproben. Für richtig würde ich entsprechende Versuche dennoch halten

  Wer diesen Blogbeitrag bis hierhin gelesen hat, dem dürfte ein Bezug zu Nachhaltigkeitsfragen gefehlt haben. Es sind doch sehr allgemeine und grundsätzliche Themen, die bisher angesprochen wurden. Tatsächlich lässt sich das bisher Ausgeführte aber fast eins zu eins auf die Betroffenheit, den Umgang und die Perspektiv-Differenzen in Bezug auf Nachhaltigkeit übertragen.

  Fakt ist, dass es eine Vielzahl von ungelösten, aber die (Über)Lebensaussichten der Menschheit berührenden Nachhaltigkeitsproblemen gibt. Fakt ist zudem, dass es große Betroffenheitsunterschiede insbesondere zwischen dem globalen Süden und Norden gibt, die allerdings konträr zur Verursachungsverantwortlichkeit stehen. Der Norden trägt den Großteil der Verantwortung, der Süden erleidet die höchste Betroffenheit. Fakt ist zudem, dass vor allem der Norden eine Vielzahl von Handlungsoptionen hat, der Süden aufgerufen ist, bei seiner wirtschaftlichen Entwicklung die historischen Fehler des Nordens zu vermeiden und daher zu Recht nach finanziellen Hilfen ruft. Fakt ist außerdem, dass allzu viele, die wirklich etwas zum Klimaschutz und zur Nachhaltigkeit tun könnten, viel zu wenig dafür tun.

  Auf der Meinungsebene gibt es überall auf der Welt zu viele und leider auch viele mächtige Akteure, die die Nachhaltigkeitsprobleme leugnen oder nicht so dringend für lösungsbedürftig halten. Sie halten ihre wirtschaftlichen Interessen für bedroht, stehen deshalb auf der Bremse und verbreiten im sozialen Diskurs „alternative Fakten“. Dazu gehört auch die Einschätzung, Nachhaltigkeitsvorsorge könnten „wir“ uns wirtschaftlich nicht leisten. Tatsächlich sind z.B. die zu erwartenden Folgekosten des Klimawandels erheblich höher als die Kosten des Klimaschutzes. 

  Wenn es gelingen würde, auch hier einen Perspektivenwechsel herbeizuführen, könnte Abhilfe geschaffen werden. Wer als Europäer einmal eine klimabedingte Hochwasserkatastrophe erlebte, würde sicher zu anderen Einsichten gelangen als ohne diese Erfahrung. Schon die vorübergehende Umsiedlung aus Mitteleuropa in eine afrikanische Hitzeregion würde die körperliche Einsicht vermitteln, dass etwa mehr für den Klimaschutz angebracht wäre. Der personelle Austausch zwischen einem Unternehmen der fossilen Wirtschaft und einem grünen Energie-Start-Up würde unternehmenskulturelle Entwicklungen in Richtung Klimaneutralität erleichtern usw. usw. Auf geht’s. Lasst uns mal unsere Perspektiven wechseln, um Verständnis und Vertrauen zu entwickeln und Fakten-geleitet gemeinsam zielführende Wege zu finden. Unsere Enkel werden es uns danken.