
Daniel Defoes Robinson Crusoe musste nach einem Schiffbruch 24 Jahre allein auf einer einsamen Insel leben. Als ein Gefährte zu ihm stieß, war er zunächst außer sich vor Glück. Aber statt ihn gleichberechtigt anzunehmen, gab er ihm selbstherrlich nach dem Tag, an dem er ihn fand, den Namen Freitag, machte ihn zu seinem Untertanen und ließ sich Herr nennen. Warum? Weil er vom Schiffbruch eine Schusswaffe gerettet hatte, der Gefährte dagegen nackt und mittellos war. Sind wir so, wir Menschen? Geht uns das Ich immer vor dem Wir und wollen wir Herr sein statt Gefährte? Hindert uns genau das daran, die Nachhaltigkeitskrise als uns alle betreffend anzunehmen und kooperativ zu bewältigen, anstatt wegen vermuteter finanzieller Nachteile oder „unzumutbarer“ Verhaltensänderungen nur klug darüber zu reden und weiterzumachen wie bisher?
Schon im Sandkasten fängt es oft an: „Mein Schäufelchen, mein Förmchen.“ Zu teilen, abzugeben, gemeinsam zu buddeln fällt oft schon den Kleinsten schwer. Die meisten Mütter und Väter versuchen dann zu vermitteln. „Schau mal, wenn Du der Klara Dein Förmchen leihst, leiht sie Dir sicher auch eines von ihren Sandsachen.“ Viele Eltern bemühen sich darum, den Kindern schon hier ein Sozialverhalten nahezubringen, das diesen Namen verdient. Manchen mehr, manche weniger. Denn wir wissen: unsere Kinder werden keine Robinson Crusoes, sondern Mitglieder von Familien, Nachbarschaften, anderen Gemeinschaften, des Landes, des Kontinents und der Weltgemeinschaft. Wir möchten nicht, dass sie am Rande stehen, unterdrückt oder gemobt werden. Die meisten möchten aber ebenso wenig, dass sie ihrerseits nur auf sich allein achten, die Ellenbogen ausfahren und ihre Mitmenschen schädigen. Das gilt auch für die nichtmenschliche Umgebung, für den Besitz anderer und für die Natur. Alle mögen respektvoll mit allem umgehen, das sie umgibt.
Schon in der Familie gelingt das aber keineswegs immer. Wenn es gilt, mit den Geschwistern zu teilen, Besitztümer zu schonen, auch wenn sie anderen Familienmitgliedern gehören. Wenn es gilt, rücksichtsvoll mit Geschwistern, Eltern, Großeltern und den anderen Verwandten umzugehen, auch und gerade wenn diese eingeschränkt leistungsfähig sind und/oder ihrerseits sich als weniger offen oder zugewandt zeigen. Dabei wird stets abgewogen werden, in welchem Umfang die Zugewandtheit erwidert wird. Andernfalls kann der oder die Zugewandte schnell an den Rand gedrängt und unter die Räder kommen. „Auf Augenhöhe“ ist das Modewort, das zurzeit gern dafür gebraucht wird, auch wenn es für mich doch hier und da zur Geringschätzung derer führt, die die Augenhöhe von sich aus nicht erreichen. Politiker und Wirtschaftsbosse neigen zu dieser Formulierung gerade dann, wenn sie sich überlegen fühlen.
Nicht nur für Kinder ist das Austarieren der eigenen Interessen und Betroffenheiten mit denen der anderen Menschen und mit der nichtmenschlichen Natur oft eine Gratwanderung. Denn zumindest auf den ersten Blick ist die Konstellation ja manchmal so, dass das eigene Tun anderen oder der Natur schadet, oft nicht einmal absichtsvoll. Oder die Mitmenschen handeln alles andere als rücksichtsvoll. Soll ich die Beförderung auf einen guten Job ausschlagen, wenn ihn statt meiner eine alleinerziehende Kollegin bekommen könnte, die das Geld viel dringender bräuchte? Warum soll ich auf den einen Urlaubsflug verzichten, wenn die Nachbarn viermal im Jahr nach Teneriffa fliegen?
Das Wir ist eine komplexe Angelegenheit. Es braucht Regeln, die das Zusammenleben so gestalten, dass niemand übergebügelt wird und auch niemand übermäßige Vorteile hat. In einem Rechtsstaat gibt es Gesetze und Verordnungen, die politisch ausgehandelt, in Kraft gesetzt und kontrolliert werden. Aber leider sind diese Regeln nicht selten so, dass sie doch einige bevorzugen und damit zur Ungleichbehandlung führen. Da werden z.B. die einen regulär besteuert, die anderen finden Schlupflöcher und zahlen so gut wie keine Steuern. Die einen sind Privatpatienten, die anderen Mitglieder gesetzlicher Krankenkassen und erleben Ungleichbehandlungen. Der demokratische Rechtsstaat ist nicht vollkommen, von anderen autokratischen Systemen gar nicht zu reden. Oft setzen sich im politischen Geschäft nicht Mehrheiten durch, sondern Partikularinteressen mit privilegiertem Zugang zu den politischen Entscheidern. Wenn Menschen in großer Zahl auf die Straße gehen, um z.B. für wirksamen Klimaschutz zu demonstrieren, bedeutet das keineswegs, dass Regierung und Parlament ihrem Anliegen folgen. So mussten die Millionen Fridays4Future sich seinerzeit anhören, sie mögen den Klimaschutz doch den kompetenten politischen Experten überlassen.
Wer gesetzliche Vorschriften verletzt, wird zur Rechenschaft gezogen. Es gibt Strafandrohungen bei Verstößen gegen das Strafrecht wie z.B. Diebstahl oder Körperverletzung. Es gibt zivilrechtliche Klagemöglichkeiten, wenn sich jemand von einem anderen in seinen Rechten beeinträchtigt glaubt. Und es gibt die Möglichkeit, gegen Handlungen oder Weisungen des Staates zu klagen, wenn man diese für rechtswidrig hält. Dann müssen jeweils zuständige Gerichte eine Entscheidung treffen und die gesetzlichen Regeln durchsetzen.
So fair und ausgewogen dies klingt, ist es aber leider nicht immer. Auch hier gibt es nämlich Unterschiede in den Chancen, sein verbrieftes Recht durchzusetzen. Wieder sind es diejenigen, die über mehr Geld verfügen oder auf Grund ihrer gesellschaftlichen Stellung privilegiert sind, denen es leichter fällt als dem Normalbürger, ihre Rechte durchzusetzen oder Strafen abzuwenden. Der ehemalige VW Vorstand Winterkorn, der als Unternehmenschef den sog. Dieselskandal maßgeblich zu verantworten hat, konnte ein Gerichtsurteil zu seinen Lasten abwenden, weil seine Anwälte und Ärzte das Gericht dazu veranlassten, ihn für dauerhaft verhandlungsunfähig zu erklären.Ebenfalls beteiligte Untergebene dagegen wurde rechtskräftig verurteilt und mussten zum Teil Gefängnisstrafen verbüßen.
Andere Regeln für das Zusammenleben sind nur zum Teil in schriftlicher Form festgehalten. Es sind vor allem moralische Regeln, wie sie etwa in der Bibel oder dem Koran formuliert sind oder wie sie sich als „gutes Benehmen“ herausgebildet haben. Auch wenn sie zumeist nicht mit förmlichen Strafen belegt sind, kann ihre Wirksamkeit doch sehr hoch sein. Wer häufig lügt, wird bei seinen Mitmenschen nicht sehr geachtet sein, es sei denn er betreibt kommerzielle Werbung, in der ja leider nicht selten gelogen wird, dass sich die Balken biegen.
Das Wir ist auch deshalb kompliziert, weil die Menschen zwar prinzipiell als gleichberechtigt und vor dem Gesetz sogar als gleich gelten, dies ansonsten aber natürlich keineswegs sind. Es gibt nicht nur eine Fülle von Unterschieden z.B. des Geschlechts, der Abstammung und des Glaubens, die zwar nicht zu unterschiedlicher Behandlung führen sollten, dies aber doch immer wieder tun. Die Macht, seine Belange vorrangig durchzusetzen, hängt dabei mit dem Geldvermögen und dem Einkommen zusammen, mit dem sozialen Status, dem Bildungsstand und mit persönlichen Fähigkeiten wie Redegewandtheit und Durchsetzungsvermögen. In dieser Hinsicht weniger privilegierte Menschen stoßen nicht selten auf Grenzen bei der Durchsetzung ihrer Belange, im täglichen Leben wie auch vor Gericht. Chefs haben Recht, auch wenn sie Unsinn erzählen. Frauen verdienen auch in Deutschland immer noch insgesamt 18% weniger als Männer und wenn sie die exakt gleiche Tätigkeit ausüben immer noch 6%. Und für die grundlegend wichtigen Tätigkeiten, die ein Wir überhaupt erst ermöglichen, für die Kindererziehung, die Kranken- und Altenpflege und für die Arbeit im Haushalt werden sie überhaupt nicht entlohnt, oft nicht einmal auch nur gewürdigt.
Hinzu kommt, dass das westliche Wirtschaftssystem ausdrücklich diejenigen belohnt, die das Ich unangefochten über das Wir stellen. Konkurrenz ist das vorherrschende Systemmerkmal, nicht etwa Kooperation oder Solidarität. Konkurrenz wird als Motor des wirtschaftlichen Fortschritts gesehen, obwohl sie Verhaltenselemente enthält und Folgen nach sich ziehen kann, die mit Ellenbogeneinsatz und der Schädigung anderer verbunden sind.
Während aber z.B. im sportlichen Wettbewerb Fairness das von allen anerkannte Prinzip ist, wenn Chancengleichheit herrscht und daher Siege als Ausdruck sportlicher Überlegenheit gelten können, ist dies im wirtschaftlichen Wettbewerb sehr oft nicht der Fall. Hier starten die Wettbewerber oft mit sehr unterschiedlichen Voraussetzungen, vergleichbar mit einem Hundertmeterlauf zwischen Schnecke und Hase. Nachteilige Voraussetzungen wie z.B. eingeschränkte Arbeits- und Leistungsfähigkeit gelten als hinzunehmender Mangel. Pech gehabt, wenn Du in ein Elternhaus geboren wirst, das von Bürgergeld lebt und Dir daher erheblich schlechtere Startbedingungen mitgibt als Deinen Altersgenossen aus wohlhabenden Haushalten. Auch wenn es immer wieder Fälle gibt, wo der Aufstieg vom Tellerwäscher zum Millionär gelingt, unternehmen die meisten Menschen mit schlechten Startbedingungen derartige Versuche erst gar nicht, so dass die gesellschaftlichen Eliten sich über Jahrhunderte aus den gleichen Familien rekrutierten und in jüngerer Zeit sogar immer homogener werden.
Die wirtschaftlichen und politischen Eliten sind es aber, die Kraft ihrer sozialen Stellung wesentlich stärkeren Einfluss auf die Entscheidungen haben, die die generelle Richtung der gesellschaftlichen Entwicklung bestimmen. Ob ich als normale Konsumentin ein Elektroauto kaufe, ob ich als normale Wahlberechtigte die CDU oder die Linkspartei wähle, das mag für meinen Geldbeutel oder mein politisches Gewissen bedeutsam sein, für die Gesellschaft als Ganze ist es nur dann bedeutsam, wenn es mir viele andere gleichtun. Bürgerinnen, Arbeitnehmer und Wähler können nur etwas bewegen, wenn sie koordiniert in großer Zahl kooperativ handeln. Ohne die Gewerkschaftsbewegung gäbe es auch heute noch keine Tarifverträge und keine 5-Tage-Woche. Eine Person aus der sog. Elite, die nach Studien in Deutschland ungefähr 4000 Personen mit einer Kernelite von rund 1000 umfasst, kann oft ganz allein über die Stilllegung eines Unternehmens oder die Gewährung eines Kredits entscheiden, mit nicht selten sehr weitreichenden Folgen für viele andere. Und wenn der Chef einer Boulevardzeitung die Ampelkoalition beenden will, kann ihm das gelingen.
Fakt ist dabei auch, dass die Mitlieder der Elite durchweg wirtschaftlich betucht sind. Und dass sie dieses Privileg bis auf Ausnahmen nicht gern aufgeben wollen. Sie begreifen zu großen Teilen auch die wissenschaftlich begründeten Vorschläge zur grundsätzlichen Umgestaltung unseres Wirtschafts- und Gesellschaftssystems in Richtung Nachhaltigkeit als Angriff auf sich selbst und die eigene privilegierte Zukunft. Wiederum von Ausnahmen abgesehen, sind sie keine Anhänger von Fridays4Future oder anderen nachhaltigkeitsorientierten gesellschaftlichen und politischen Bewegungen. Sie sind ein nicht unbedeutender Teil des Problems, kein Teil der Lösung, einschließlich der meisten Politikerinnen und Politiker der etablierten Parteien.
Wenn in einem von der Ampelmehrheit initiierten Bürgerrat per Zufall ausgewählte Bürgerinnen und Bürger viele vernünftige Ideen zu einer fortschrittlichen Ernährungspolitik ausarbeiten, müssen Regierung und Parlament diese Vorschläge nicht ernsthaft abwägen und umsetzen, sondern gefallen sich in Zuständigkeits- und Überlegenheitsattitüden Demokratie?
Dieser Blog handelt vom Thema Nachhaltigkeit und hat immer wieder nachzuweisen versucht, dass das Ziel eines nachhaltigen Lebens und Wirtschaftens für möglichst viele Menschen nur erreichet werden kann, wenn möglichst viele Menschen solidarisch daran mitwirken. Nachhaltigkeit ist eine Aufgabe für das Wir, nicht für das Ich. Die vielen Ichs, die mehr als andere etwas zu sagen haben, sind eher dagegen, dass wir unter Hintanstellung partikulärer wirtschaftlicher Vorteile eine Umgestaltung in Richtung Nachhaltigkeit überhaupt in Angriff nehmen. Dazu gehören im Übrigen auch Leute wie Donald Trump, Alice Weidel und andere Demokratiefeinde sowie weite Teile der einschlägigen kohlenstoffbasierten Industrie. Daher müssen diejenigen, die dazu beitragen wollen, unsere natürlichen Lebensgrundlagen langfristig zu sichern und den Ausstoß von klimaschädlichen Gasen schnell auf ein verträgliches Maß zu reduzieren, sich um das Wir bemühen. Es braucht eine globale Bewegung, die die politischen Entscheider und ihre Ich-fixierten Einflüsterer mit Nachdruck dazu veranlassen, die notwendigen Entscheidungen zu treffen anstatt bereits einmal fixierte Klimaziele nun doch wieder aufzuweichen wie derzeit die EU. Denn auch wenn US-Tech-Milliardäre glauben, sie könnten den Folgen des Klimawandels und anderer Umweltschäden auf grund ihres Reichtums persönlich entkommen, die Schäden werden alle treffen, wenn nicht unverzüglich der Weg in die postfossile Wirtschaft eingeschlagen wird.