Ist Wirtschaftswachstum alternativlos?

 

 

Seit einiger Zeit übertreffen sich die Wirtschaftsexperten mit pessimistischen Äußerungen über die aktuelle wirtschaftliche Lage. „Die deutsche Wirtschaft ist zum Jahresende 2023 geschrumpft“.(Die Zeit) „Warum schneidet Deutschland so viel schlechter ab als andere Staaten?“(SZ) Und auch die Prognosen sind düster. „Auch 2024 wird die Wirtschaft um fast ½ Prozent schrumpfen."(IW) Für Lohnerhöhungen sei daher nicht viel drin. Der Wirtschaftsweise Wolfgang Franz plädiert für niedrigere Lohnabschlüsse. Notwendig sei eine "beschäftigungsfreundliche Tariflohnpolitik". Was ist von einer solchen Argumentation vor allem angesichts der Nachhaltigkeitsproblematik zu halten?

 

 Zunächst zur wirtschaftlichen Dimension.

  Das Bruttoinlandsprodukt (BIP)  ist vereinfacht gesagt der Geldwert der in einer Volkswirtschaft in einem bestimmten Zeitraum verkauften Güter und Leistungen. Es repräsentiert die Umsätze der deutschen Unternehmen in Euro abzüglich der in ihnen enthaltenen Vorleistungen. Wenn das BIP wächst, geht es der deutschen Wirtschaft und auch den Arbeitnehmern gut, heißt es. Denn dann gibt es nicht nur wachsende Gewinne der Unternehmen, sondern auch die Möglichkeit, an die Beschäftigten höhere Löhne zu bezahlen, ohne dass Unternehmen Einbußen erleiden, indem sie mit geringeren Gewinnen zufrieden sein müssten.

   Es lohnt sich aber, etwas genauer hinzusehen. Denn wenn die Wirtschaft insgesamt wächst, heißt das nicht, dass alle Unternehmen wachsen. Es gibt auch bei wachsendem BIP Unternehmen, deren Umsätze zurückgehen. Und wachsende oder schrumpfende Umsätze bedeuten nicht, dass parallel dazu auch die Gewinne der jeweiligen Unternehmen wachsen oder schrumpfen. Wieviel Gewinn vom Umsatz übrig bleibt, hängt von vielen unternehmensinternen und -externen Einflüssen ab, z.B. von Kostenreduzierungen oder -steigerungen infolge von Preiserhöhungen der Lieferanten oder Lohnerhöhungen, die zwischen Unternehmensverbänden und Gewerkschaften ausgehandelt werden. D.h. Unternehmen geht es nur dann gut, wenn sie selbst gut wirtschaften und/oder ihre Märkte ihnen günstige Konditionen bieten. Das BIP spielt dabei keine direkte Rolle.

  Manchmal errichten Unternehmen zudem Produktionsstandorte im Ausland, um Kosten zu sparen oder fremde Märkte zu erschließen. Dadurch sinkt das deutsche BIP und z.B. das chinesische steigt. Ob es dem Unternehmen dadurch besser geht , d.h. ob seine Gewinne insgesamt steigen oder nicht, ist im Vorhinein nicht ausgemacht. Aber es besteht die Möglichkeit, dass das deutsche BIP sinkt, es dem Unternehmen, das nun auch in China produziert, aber insgesamt besser geht, weil sein Gewinn steigt.

  Ob wachsende Unternehmen gewinnträchtiger arbeiten als solche, die nicht wachsen, ist ebenfalls nicht ausgemacht. Es gibt durchaus Unternehmen, die mit einer geringeren Kapitalausstattung höhere Gewinne machen als andere, die viel mehr Kapital einsetzen. Und auch die sog. Umsatzrentabilität von Unternehmen ist je nach Branche und Marktzustand sehr unterschiedlich. Ein Lebensmittelhändler kann kaum mehr als 2-4% seines Umsatzes als Gewinn verbuchen, ein Automobilhersteller aber wird schon eine zweistellige Umsatzrentabilität erreichen.

   Wenn ein Unternehmen allerdings zusätzliches Kapital aufnimmt, sei es als haftendes Eigenkapital oder als festverzinsliches Fremdkapital, dann muss es wachsen, um die finanziellen Ansprüche der zusätzlichen Kapitalgeber zufrieden zu stellen. Denn andernfalls müssten die alten Eigentümer von ihrem Gewinn etwas abgeben oder die neuen würden keine zufriedenstellende Rendite erzielen. Gerade bei zusätzlichem Fremdkapital ist das besonders kritisch, weil Fremdkapitalgeber eine festen Zins verlangen, gleichgültig ob das Unternehmen mit dem Kredit gewinnträchtig gearbeitet hat oder nicht. Insofern sind es vor allem die Finanzinstitute (Banken, Hedgefonds etc.), die ein geschäftliches Interesse am Wachstum des BIP haben, andere Dienstleister und produzierende Unternehmen eher nicht.

  Hier muss nun erneut differenziert werden. Denn insbesondere der Mittelstand, also zumeist eigentümergeführte Unternehmen mit 10-500 Beschäftigten, sind oft gar nicht am eigenen Wachstum interessiert. Ihre Chefs wollen oft den persönlichen Überblick behalten und ihre Führungsaufgabe nicht mit anderen teilen. In größeren Unternehmen dagegen fallen die aktive Unternehmerrolle und das Eigentum zumeist personell auseinander. Angestellte Manager führen die Unternehmen, Eigentümer sind andere. Die Manager werden allerdings oft in Abhängigkeit von der Unternehmensgröße (Umsatz, Gewinn, Beschäftigtenzahl) bezahlt. Sie selbst sind daher durchaus am Wachstum der von ihnen geführten Unternehmen interessiert.

  Dann sind da noch die Wirtschaftsjournalisten, die in Zeitungen, Funk und Fernsehen über wirtschaftliche Themen schreiben. Sie haben, von Ausnahmen abgesehen, vor allem die Börse und die dort gehandelten großen Unternehmen im Blick. Sie haben fast immer mit Unternehmen und Unternehmern zu tun, die ein eigenes Interesse am Wachstum der Wirtschaft haben, sei es, weil ihr persönliches Einkommen davon abhängt, sei es weil es ihr Geschäftsmodell ist, anderen Unternehmen zusätzliches Kapital zu überlassen, das diese nur zahlen können, wenn sie wachsen.

  Nun noch ein Blick auf die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, denen es angeblich ja auch besser geht, wenn die Wirtschaft wächst. Das Gehalt der „normalen“ Beschäftigten wird nicht einzeln zwischen Unternehmen und Arbeitnehmer ausgehandelt, sondern in Tarifverträgen vereinbart, die zwischen Unternehmerverbänden und Gewerkschaften abgeschlossen werden. Das geschieht nicht immer friedlich am Verhandlungstisch, sondern muss oft mit Streiks erkämpft werden. Manchmal ist das sogar so schwierig, dass wiederholte Streiks ausgerufen werden, bis es zu Einigungen kommt. So ist es aktuell bei der Deutschen Bahn und im Flugverkehr. Hier haben die Streikenden durchaus auch damit zu kämpfen, dass vor allem die Fahr- und Fluggäste von den Streiks betroffen und darüber oft nicht gerade glücklich sind.

  Die von Streiks betroffenen Unternehmen und ihre Verbandsvertreter sind natürlich eher bereit, Forderungen nach Lohnsteigerungen zu erfüllen, wenn sie nichts von ihrem bisherigen Gewinn abgeben müssen, sondern wenn zusätzlich erzielte Gewinne in der jeweiligen Branche dafür Spielraum bieten. Wirtschaftswachstum erleichtert daher Tarifverhandlungen und -erhöhungen. Es ist aber keineswegs zwingende Voraussetzung dafür. Unternehmen machen durchaus Gewinne, ohne dass sie wachsen. Sie müssten, wenn Arbeitnehmer höhere Löhne bekommen sollen, nur davon etwas abgeben, um diese Forderungen zu erfüllen.

  Warum sollten sie das tun, kannb man fragen. Nun, es mag ein schwaches Argument sein, aber weil es gerecht wäre, sollten sie es tun. Denn es ist fast schon wie in „täglich grüßt das Murmeltier“: Kaum ein Jahr vergeht, in dem die großen Unternehmen, die über ihre Gewinne informieren müssen, weil das Aktiengesetz dies vorschreibt, nicht über Gewinnsteigerungen berichten. Sogar im Krisenjahr 2022 erzielten sie Rekordgewinne.  Volkswagen machte einen Gewinn in Höhe von 17 Mrd € (plus 23%). Mercedes 15 Mrd € (plus 26%). Auf Platz drei rangierte die Hamburger Reederei Hapag-Lloyd, die ihren Gewinn auf gut 14 Mrd € sogar mehr als verdoppeln konnte. Und das bei einem Wirtschaftswachstum von insgesamt 1,9%.  Die durchschnittlichen Tariflöhne der Beschäftigten stiegen 2022 zwar nominell ebenfalls, und zwar um 3,4 %, inflationsbereinigt sanken sie jedoch gegenüber dem Vorjahr um 4,1 %. Wer also profitiert hier vom Wirtschaftswachstum?

  Ähnlich ist es bei den Jahresgehältern der Top-Manager. Sie liegen fast durchweg über der Millionengrenze, und können durchaus achtstellig ausfallen.  Der Mittelwert  des Normalgehalts eines deutschen Arbeitnehmer dagegen liegt bei 44.100 € pro Jahr. (Frauen etwa 40.000 €) Das Vorstandsmitglied eines DAX-Unternehmens verdient im Durchschnitt 3,4 Mio € pro Jahr und damit das 77fache des Normalgehalts. Auch hier also große Differenzen, die durch Leistungs- und Verantwortungsunterschiede nicht zu erklären sind und durchaus Verteilungsspielräume ohne Wirtschaftswachstum erkennen lassen.

  Am krassesten fällt der Unterschied jedoch auf, wenn man Normalgehälter mit den persönlichen Einkommen von Unternehmenseigentümern vergleicht. Klaus Michael Kühne z.B.,  lt. Forbes 2024 der reichste Deutsche, besitzt neben der Spedition Kühne und Nagel u.a. 30 Prozent des Kapitals von Hapag Lloyd und verdiente zuletzt allein durch die Dividendenausschüttung dieses Unternehmens das 1.300fache des Vorstandschefs von Hapag Lloyd. Preisfrage: Wenn das Vorstandsgehalt das 77fache eines normalen Mitarbeiters der Firma ist, das Wievielfache davon dann der Gewinnanteil von Michael Kühne?

  Der Gerechtigkeit halber muss erwähnt werden, dass viele Chefs von kleinen und Kleinstunternehmen und erst recht Solo-Selbständige keineswegs in diese Größenordnung kommen, sondern nur ca. 1 % aller Selbstständigen ein Monatseinkommen von über 10.000 Euro haben.  Also auch hier krasse Unterschiede.

  Ein ökonomisches Interesse am Wachstum haben tatsächlich nicht die Normalverdiener, sondern diejenigen, die eh schon ein Vielfaches des mittleren Einkommens erreichen. Verteilungsprobleme gibt es nicht, weil Wirtschaftswachstum fehlt, sondern weil das Einkommen in der Bevölkerung extrem ungleich verteilt ist. Wachstum ist ökonomisch nicht alternativlos.

  Nun aber endlich zum Thema Nachhaltigkeit. Wie sieht es damit in diesem Zusammenhang aus?

  Zwei Dinge sind klar. Bezieher hoher Einkommen haben einen sehr viel größeren ökologischen Fußabdruck als Normalverdiener.  Wenn sie etwas abgeben sollten, würde das den gesamten Fußabdruck Deutschlands spürbar senken. Diejenigen, die ein ökonomisches Eigeninteresse am Wirtschaftswachstum haben, Unternehmen des Finanzsektors, deren Top-Manager sowie die Eigentümer und Top-Manager großer Unternehmen, sind nicht daran interessiert, das Wachstum zu reduzieren oder gar ein Schrumpfen des BIP hinzunehmen.

  Das aber, eine Begrenzung des Wirtschaftswachstums, ja ein Schrumpfen des BIP, ist aus Nachhaltigkeitsgründen unausweichlich. Die Rede von sog. qualitativen Wachstum oder von einer Entkopplung von Wachstum und Naturverbrauch ist ein Märchen. Es wird nicht ausreichen, die Stromversorgung auf grüne Quellen umzustellen, Kreislaufsysteme aufzubauen und die Produktion von Plastik und anderen Schadstoffen zu begrenzen. Vor allem die Bezieher hoher Einkommen in Industrieländern müssen bescheidener leben und achtsamer mit der Natur umgehen, um die Lebensgrundlagen zu erhalten. Wenn es nicht gelingt, die Lebens- und Wirtschaftsweise des globalen Nordens grundlegend umzubauen und Wachstum weltweit allenfalls noch in dem Umfang zuzulassen, dass die Plage des Hungers ausgerottet wird, ist eine nachhaltige Entwicklung nicht zu erreichen. Diese Einschätzung dürfte bei den Mächtigen in Wirtschafts- und Finanzwelt nicht auf Zustimmung stoßen, was ihre Umsetzung erheblich erschwert. Machbar ist sie aber genauso wie eine Korrektur der Einkommensverteilung ohne Wachstum.