"Letzte Generation" - Ein Zwischenruf.

In diesen Tagen werden von den überwiegend jungen Mitgliedern einer Gruppe, die sich „Letzte Generation“ nennt, in Berlin und andernorts wieder verstärkt Autofahrer dadurch am Weiterfahren gehindert, dass sich Demonstrierende auf Fahrbahnen setzen und ihre Hände am Straßenbelag festkleben. Darüber diskutiert die Republik heftig und erregt wie lange nicht, allerdings leider nicht über den Hintergrund der Demonstrationen, den Klimawandel, zu dessen Bekämpfung die „Klimakleber“ aufrufen. Der Tenor: Natürlich muss der Klimwandel bekämpft werden, aber doch nicht so. Was läuft da eigentlich?

 

 

 

 

Sammeln wir zunächst einmal ein paar publik gemachte Äußerungen Prominenter:

  •  "Hier handeln Straftäter und keine Klimaaktivisten. Wir müssen verhindern, dass eine Klima-RAF entsteht.“ (Alexander Dobrindt, CSU )
  •  "Gewalt als Mittel der politischen Auseinandersetzungen hat in der Demokratie nichts verloren." (Marco Buschmann, FDP,          Bundesjustizminister)
  •  "Die Letzte Generation ist elitär und selbstgerecht. Wir reden nur noch über die Aktionen als solche, aber nicht mehr über den Klimaschutz selbst. Das schadet mehr, als es nutzt.“ (Tarek Al-Wazir, Grüne, Hessischer Wirtschaftsminister)
  • "Was ich von denen halte? Das sind Vollidioten.“ (Til Schweiger, Filmschauspieler )
  • "Die Klima-Chaoten geben vor, die Welt retten zu wollen. Doch durch ihre radikalen Aktionen machen sie sich selbst zum Sicherheitsrisiko.“ (BILD online)
  • "Die Klimakleber verkennen in ihrem Wahn, dass das Klima-Armageddon hauptsächlich in ihrer von Endzeit-Apologeten unterfütterten Gedankenwelt existiert.“ (Focus online)

  Geht’s noch? Da ist alles dabei, was die Medien so schätzen, weil es Aufmerksamkeit erregt. Und was Politiker und andere „Meinungsführer“ meinen, äußern zu müssen, damit sie als wichtig und meinungsstark wahrgenommen werden. Immerhin hat es der Begriff Klimaterroristen 2022 zum Unwort des Jahres gebracht. Es gibt also auch Einsicht. Und sogar Anerkennung: Ein Forscher der FU Berlin meint, die Aktivisten hätten zwar keinen Einfluss auf die Klimapolitik gehabt, sie hielten aber immerhin trotz Kriegs in der Ukrainekrieg, Energiekrise und Inflation die Klimathematik in der öffentlichen Wahrnehmung. „Das ist natürlich ein wahnsinniger Erfolg.“

  Bezieht mal einer von den meinungsstarken Promis Stellung zu dem, was die Aktivisten eigentlich fordern? Eher selten. Es sind zwei kleine und eine größere Forderung, die erhoben werden: Tempolimit von 100 km/h auf Autobahnen, flächendeckendes dauerhaftes 9-€-Ticket für die Bahn und die Einrichtung eines Gesellschaftsrats, in dem 160 zufällig zusammengerufene Bürgerinnen und Bürger Maßnahmen erarbeiten, wie Deutschland bis 2030 die Nutzung fossiler Rohstoffe beenden könnte, und dies dann dem Bundestag vorlegen. Gleichsam ein Organ des zivilgesellschaftlichen Lobbyismus gegen die lobbyistische Übermacht der Wirtschaft.  Wahrlich alles andere als eine Revolution. Und die Mittel? Ziviler Ungehorsam, Verkehrsbehinderung, vielleicht noch Sachbeschädigung, sonst nix.

  Alle drei Forderungen haben derzeit allerdings wohl keine Realisierungschance. Tempo 100 scheitert an der FDP und hat im Gegensatz zu Tempo 130 wahrscheinlich auch in der Bevölkerung keine Mehrheit. Ein dauerhaftes 9-€-Ticket ist trotz des Doppelwumms aus Regierungssicht wohl „nicht finanzierbar“, der Bundeskanzler hat den Wunsch der Letzten Generation nach einem Gespräch abgelehnt. Und ein Gesellschaftsrat unterminiert die Strukturen der Berufspolitik, auch wenn er nur beratende Kompetenz haben sollte.

  Die Adressaten dieser Forderungen sind die politisch Verantwortlichen. Dass diese durch Untätigkeit in wachsendem Maße die Rechte künftiger Generationen beschädigen, hat ihnen 2021 das Bundesverfassungsgericht bescheinigt.  Das Gericht erklärt die Verpflichtungen des Pariser Klima-Abkommens für verfassungsrechtlich verbindlich. Der Gesetzgeber sei verpflichtet, einen vorausschauenden Plan zu entwickeln, um den Klimawandel zu bremsen. Und was tut die Politik? Sie weicht das im Anschluss an das Gerichtsurteil verschärfte Klimaschutzgesetz gerade wieder auf und polemisiert auch aus der Ampel heraus gegen den Heizungsgesetz-Entwurf, den der Wirtschaftsminister vorgelegt hat.  Sollen engagierte junge Menschen das einfach hinnehmen? Immerhin haben sie, was ihre sachlichen Befürchtungen angeht, praktisch die gesamte Zunft der Klima- und Umweltforschung auf ihrer Seite. Es geht Ihnen also nicht um irgendein Partikularinteresse, sondern „nur“ um die Über)lebensperspektiven der Menschheit. Dagegen nehmen sich ihre konkreten Detailforderungen sehr bescheiden aus.

  Allerdings: Die „Opfer“ der Blockaden sind die Bürgerinnen und Bürger. Sie sind vielfach notgedrungen mit dem Auto unterwegs, weil die übrigen Verkehrsmittel im Gegensatz zum Auto kaputtgespart oder nicht hinreichend ausgebaut sind. Sie fahren ohnehin schon von einem Stau in den nächsten. Und nun verursachen Klimaaktivisten noch mehr Staus. Das ist ähnlich wie bei gewerkschaftlichen Streiks. Auch hier sind die Adressaten zumeist andere als die vom Streik Betroffenen, nicht nur bei Streiks im Verkehrssektor oder im öffentlichen Dienst. Auch da gibt es zwar Verständnis für die Streikenden, aber nicht bei allen.

  Und hier? Mehr als 80% der befragten Deutschen verurteilen die Aktionen der Letzten Generation.  Eine andere Umfrage registriert einen spürbaren Ansehensverlust der gesamten Klimaschutzbewegung infolge der Straßenblockaden. Bei über 75% der Befragten habe sich das Image der Klimaschutzbewegung verschlechtert.  Und einige (wenige) gestresste Autofahrer gehen gegen die Demonstrierenden sogar mit Gewalt vor.

 Sind die Aktivitäten der Klimakleber also nicht nur kritikwürdig, sondern auch schädlich für die Bemühungen zum Klima- und Umweltschutz, wie etwa der geschätzte Kollege Mojib Latif meint?

 Ich meine: Man sollte genauer hinschauen, bevor man (ver)urteilt.

 Da sind zum einen die Politiker, an die sich der Protest wendet. Indem sie die Form der Proteste kritisieren, vermeiden sie ausdrücklich, auf die Inhalte der Forderungen einzugehen. Dann müssten sie nämlich selbstkritisch ihre Versäumnisse der letzten Jahre und Jahrzehnte eingestehen und zudem begründen, warum sie noch immer zögern und verschleppen. Die Statements der Politiker, auch der GRÜNEN sind also nur allzu durchschaubar. Herr Al-Wazir lässt gerade als Hessischer Wirtschaftsminister die Autobahn durch den Danneröder Forst bauen, die er aus der parlamentarischen Opposition noch strikt abgelehnt hatte.

 Da sind zum zweiten die Medien. Sie betreiben publizistische Effekthascherei zur Aufmerksamkeitsgewinnung statt ihren politischen Aufdeckungs- und Aufklärungsauftrag ernst zu nehmen. Sie kleben Etiketten, anstatt die Anliegen der Demonstrierenden zu dokumentieren und zu hinterfragen. Sie polarisieren, anstatt für einen Verständnis suchenden gesellschaftlichen Dialog zu werben. Vor allem die üblichen Verdächtigen, BILD und FOCUS (siehe Zitate), hetzen und/oder ziehen gleich den Klimawandel ganz in Zweifel.

  Und wir Bürgerinnen und Bürger? Wir wissen um den Klimawandel und dessen Bedrohungspotential. Viele wissen vielleicht sogar schon um die sog. Kipppunkte, auf die Klimaschützer vor allem hinweisen: Ereignisse, die bedingt durch den Klimawandel recht nahe bevorstehen und die, wenn sie eintreten, eine unumkehrbare Entwicklung in Gang setzen, die den Klimawandel drastisch verschärft, aber mit menschlichen Gegenmaßnahmen nicht mehr aufhaltbar ist.Trotz dieses Wissens fühlen wir uns ohnmächtig, wirksam gegenzusteuern, einerseits weil wir das als Einzelne nur begrenzt  können, andererseits weil wir uns schwer tun, die Bequemlichkeiten unseres materiellen Wohlstandslebens aufzugeben und auch persönlich ernst zu machen mit dem Umsteuern in Richtung Nachhaltigkeit: mit Weniger von allem. So ist es auch für uns bequemer, die Form der Klimaproteste zu kritisieren, als auf deren Inhalte einzugehen. Wir sind für Nachhaltigkeit, aber bitte nicht auf eine uns persönlich allzu einschränkende Art und Weise.

 Es wird aber keine „bequeme“ Nachhaltigkeit geben, auch wenn die FDP nicht müde wird zu behaupten, „technologieoffen“ und marktwirtschaftlich, dann wird’s schon irgendwie klappen. Die westliche Welt tut gut daran, endlich einzusehen, dass es eines schnellen und radikalen Wandels bedarf, wenn wir das Ruder noch herumreißen und uns in die ruhigeren Fahrwasser eines guten, aber bescheidenen Lebens für alle bewegen wollen. Die aktuellen Einschränkungen, wegen Sitzblockaden mal eine Viertel- oder ganze Stunde später ans Ziel einer Autofahrt zu kommen, sind peanuts dagegen.