Befördern wir Putin zum Klimaretter!

 

  Seit einigen Monaten geht ein Gespenst um in Europa: Insbesondere „die Wirtschaft“, aber auch Politik und Medien und dadurch viele Menschen fürchten und warnen, dass im kommenden Winter nicht genügend Gas verfügbar sein könnte, um die Produktionsanlagen zu betreiben und die Wohnungen zu heizen. Denn der russische Präsident dreht am Gashahn. Erst ein bisschen weniger, dann eine unaufschiebbare Wartung, dann noch weniger, bald vielleicht kein Gas mehr für Europa aus Russland. Und wenn doch, dann exorbitant teuer. Ist also Sparen angesagt? Das wäre allerdings sowieso wegen des Klimawandels geboten. Dann würde Putin ganz wider Willen zu Europas Klimaretter. Oder doch nicht?

 

  Trotz oder wegen Bombardierung durch die Medien ist dem Normalbürger inzwischen völlig unklar, was da in Sachen Energieversorgung derzeit wirklich Sache ist. Da sind um einen die enormen Preise, die seit Beginn des russischen Überfalls auf die Ukraine aufgerufen und durchgesetzt werden. Für Heizöl über 100% Preissteigerung seit dem Beginn des Krieges.  Gleiches gilt für die Benzin- und Diesel-Preise an den Tankstellen. Sie schnellten im März 2022 von 1,66 auf 2,14 € (Diesel) bzw. von 1,74 auf 2,07 € (Super E10).  Parallel dazu liest man Meldungen über entsprechende Gewinnsteigerungen bei Energieversorgern und Mineralölfirmen. So hat Shell im ersten Halbjahr 2022 seinen Gewinn auf 18 Milliarden Dollar gesteigert und fünfmal so viel verdient wie im gleichen Zeitraum des Vorjahrs. Ähnlich andere Konzerne der Branche. Selbst der Energieversorger RWE, der nicht im Ölgeschäft tätig ist, berichtet von einer deutlichen Gewinnsteigerung um etwa 30%, vor allem wegen gesteigerter Erlöse für Windstrom. 

  Ähnlich und doch ganz anders bei der Gasversorgung. Auch hier gibt es starke Preissteigerungen von über 75%. Zugleich aber eine enorme Verknappung der Liefermengen, die bisher zu einem erheblichen Teil über verschiedene Pipelines aus Russland gekommen waren. Bestehende Verträge werden gebrochen. Die Gasversorger, ob Großhändler oder regionale Energieversorger dagegen sind bisher über Verträge mit ihren Kunden an vereinbarte Abgabepreise gebunden, müssen nun aber die Fehlmengen an Spotmärkten zu erheblich höheren Preisen beschaffen und geraten so in wirtschaftliche Schwierigkeiten.

 Obwohl inzwischen die deutschen Gasspeicher zu über 75% gefüllt sind, mehr als bisher Ziel war, ist daher Sparen angesagt. Denn es kommen zwei Faktoren zusammen. Putin senkt immer mal wieder die Gasmengen. Zugleich, aber nicht nur deshalb steigen die Energiepreise auf der ganzen Linie. Zugleich müssen die Energiepreissteigerungen, der Ukrainekrieg und die weltweiten Störungen der Lieferketten z.B. durch die No-Covid-Politik Chinas als Rechtfertigung für drastische und nahezu flächendeckende Preissteigerungen bei Bau- und Rohstoffen, Lebensmitteln und vielen anderen Produkten herhalten. Die Inflation ist drastisch gestiegen wie seit Jahrzehnten nicht mehr.

  Wer bisher kaum über die Runden gekommen ist, weiß nicht mehr ein noch aus. Wer mit seinem Geld so einigermaßen hingekommen ist, muss den Gürtel enger schnallen. Nur die paar wirklich Reichen merken nichts. Viele Unternehmen dagegen vermelden Gewinnsteigerungen.

 Bisher gab es immer noch die Möglichkeit, auf preiswerte Alternativen zurückzugreifen. Das fällt jetzt weitgehend flach, denn praktisch alles wird teurer. Frei nach der hessischen Kaufmannsregel „Nimm, was Du kriegen kannst“ langt jeder mal zu. Bei der Gebäudeheizung geht oft gar nichts. Denn hier müsste die gesamte Heizungsanlage ausgetauscht werden, wenn man auf Alternativen umsteigen will. Lock-in nennt das die Ökonomie.

  Also muss an den nachgefragten Mengen eingespart werden: Weniger Heizöl, Gas, Benzin, weniger von allem, was im Gleichschritt teurer geworden ist. Das aber ist genau das, was auch im Zusammenhang mit der Klima- und Umweltkrise immer wieder gefordert wird: Weniger verbrauchen, genügsamer leben, um die Überlastung der Erde auf ein verträgliches Maß zu reduzieren. Putin als Klimaretter, als Nachhaltigkeitsförderer wider Willen! Dass der russische Diktator so etwas ernsthaft im Sinn hat, kann man ausschließen angesichts der Klima- und Umwelt-schädlichen Wirtschaftsstrukturen in Russland und in den anderen autokratisch geführten Ländern wie China, Brasilien, Arabien usw.

 Aber in Deutschland könnte es klappen, wenn alle an einem Strang ziehen. Genau das Gegenteil aber ist der Fall. Jeder sagt, der andere muss sparen, wir können auf keinen Fall z.B. auf Gas verzichten. Das sagt die Stahlindustrie, die Glasindustrie, die chemische Industrie usw. Wir können nicht auf Sprit verzichten, sagen die Pendler. Ich will weiter jeden Morgen heiß duschen, sagen manche. Raumtemperatur runterdrehen in der eigenen Wohnung kommt nicht infrage…

  Und die Politik? Schaut selbstverständlich nicht tatenlos zu, sondern leistet Hilfe für die Betroffenen. Die Bürger werden mit einem bis zum 30.8. 2022 befristeten Hilfspaket bedient. Es umfasst 15 Milliarden Euro und enthält u.a. eine Senkung der Mineralölsteuer auf Benzin und Diesel, direkte finanzielle Zuschüsse und ein reduziertes Bahnticket für den öffentlichen Nahverkehr. Der Gasversorger Uniper wird durch Kredite und eine Staatsbeteiligung gestützt, Gesamtwert insgesamt ebenfalls 15 Mrd.  Die Versorger dürfen zudem ihre steigenden Beschaffungskosten trotz gegenteilig bindender Verträge an ihre Kunden weitergeben und erhalten zudem eine von allen Verbrauchern zu zahlende Gasumlage von 2,4 Cent pro kWh. Weitere finanzielle Entlastungspakete sind angekündigt. Außerdem werden Terminals für die Anlandung von Flüssiggas per Schiff errichtet und dafür notwendige Genehmigungsverfahren drastisch abgeschmolzen.Nicht sparen, sondern das gewohnte Versorgungsniveau möglichst mit geringen finanziellen Zusatzbelastungen bewahren, ist die Devise.

  Sparsamkeitsprämien sucht man vergebens. Ergänzt werden die Maßnahmen durch Warnungen und Apelle. Es sei unbedingt notwendig, Energie zu sparen, z.B. durch geringere Raumtemperaturen, den Verzicht auf langes Duschen mit heißem Wasser.  Bei weiteren Reduktionen der Gaslieferungen aus Russland müsse auch über eine Zuteilung per Notfallplan nachgedacht werden, der Bürgerinnen und Bürger ebenso wie die Industrie erfasst.

  Wie ist das alles einzuschätzen, vor allem angesichts der ohnehin durch Klimawandel und Naturzerstörung bestimmten Notwendigkeiten einer radikalen Reduzierung der weltweiten Ressourcenverbräuche und Emissionsreduzierungen? Für mich ergibt sich ein gespaltenes Urteil.

  Insbesondere diejenigen Maßnahmen, die ein umstandsloses Weiterso ermöglichen sollen, sind unter Nachhaltigkeitsgesichtspunkten fatal. Die staatliche Absenkung der Spritpreise kommt vor allem Vielfahrern zugute, die in der Regel nicht zu den Geringverdienern gehören und daher Preiserhöhungen durchaus verkraften könnten. Zum anderen aber bremst sie den Umstieg auf E-Autos (auch wenn ich diese nicht für der Weisheit letzten Schluss halte). Vor allem aber leistet sie genau das nicht, was nötig wäre: einen Beitrag zum Wenigerfahren, z.B. durch Bildung von Fahrgemeinschaften, zum Umstieg auf Öffis oder „Bio-Verkehrsmittel“ wie Radfahren und Zufußgehen.

  Die Förderung des öffentlichen Nahverkehrs durch das 9-Euro-Ticket ist nur auf den ersten Blick sinnvoll. Denn sie steigert die Nachfrage bei gleichzeitiger Beibehaltung des schlecht ausgestatteten und funktionierenden Angebots. Viele Nahverkehrszüge sind brechend voll, verspätet oder fallen gleich ganz aus, mit entsprechenden Auswirkungen auch auf die Züge, für die das verbilligte Ticket nicht gilt. Sinnvoll ist die Einheitlichkeit des Tickets für ganz Deutschland, angesichts des Flickenteppichs der bisher unendlich vielen Regional und Kommunaltarifsysteme. Hierdurch wird die Nutzung der Öffis deutlich erleichtert. Ansonsten aber wäre das Geld wesentlich besser beim Ausbau der Bahninfrastruktur angelegt.

 Zudem erkenne ich ein Missverhältnis zwischen der fieberhaften Suche nach weiteren fossilen Ersatzenergieträgern für das ausbleibende russische Gas und den demgegenüber kaum sichtbaren Bemühungen, die Energiewende endlich ernsthaft und vor allem zügig anzuschieben. Da reist der grüne Wirtschaftsminister nach Katar, hofiert die dreckigen LNG-Lieferanten aus den USA und setzt einfach mal reguläre Genehmigungsverfahren aus Kraft, die zweifellos generell gestrafft werden müssen, aber nicht unbedingt zur Nutzung ökologisch höchst problematischen Fracking-Gases.

  Wie wäre es mal mit schnellen unbürokratischen Hilfen für die in Warteschlange stehenden Bürgerinitiativen, die in Bayern, Baden-Württemberg und anderswo Windkraftanlagen errichten und betreiben wollen? Wie wäre es mit einer schnellen Förderung von baulichen Energiesparmaßnahmen, vor allem im Bestand. Sie kämen den ohnehin von Mietsteigerungen betroffenen Mietern und damit gering bis durchschnittlich verdienenden Menschen und dem Klimaschutz zugute. Wie wäre es mit der finanziellen Förderung kleiner sparsamer E-Autos anstelle der Prämien für E-SUVs und Hybrid-Dienstwagen? Warum gibt es Spritpreissenkungen, aber keine Prämien für Fahrgemeinschaften und andere Formen des Spritsparens? Oder wie wäre es endlich auch gegen das Votum der Freiheitsapostel mit dem Tempolimit auf Autobahnen?

  Deutschland und Europa wollen sich nicht von Putin erpressen lassen, sondern ihm die Stirn bieten. Das ist gut so, wird aber zögerlich und halbherzig umgesetzt. Warum verzichten wir nicht aus eigenem Antrieb völlig auf Öl und Gas aus Russland, statt wie das Kaninchen auf die Schlange zu starren, ob er freiwillig Gas liefert oder nicht? Das beschert ihm wegen der stark gestiegenen Preise sogar noch höhere Gas-Gewinne als vorher. Aus hier könnte gespart und das Geld in sinnvolle andere Sparmaßnahmen gesteckt werden.

Ich meine, wir sollten die Steilvorlage des Kreml-Herrn und der anderen Energie-Autokraten annehmen und endlich richtig zu sparen anfangen. Der Staat hat offenbar wie schon bei der Commerzbank, bei TUI und bei der Lufthansa wiederum genug Geld, um jetzt bei Uniper einzusteigen. Er sollte sein Geld aber vor allem dafür ausgeben, dass damit Energieeinsparungen gefördert werden, die nicht nur den Geldbeutel der „normalen“ Bürgerinnen und Bürger entlasten, sondern auch den Klimawandel bremsen helfen. Das ist eine klassische Win-Win-Situation.