Taxonomie ist ein Teilgebiet der Biologie, in dem nach Angaben der einschlägigen Fachgesellschaft weltweit ca. 4-6.000 Wissenschaftler tätig sind, die sich der Aufgabe widmen, die auf der Welt vorkommenden Arten von Lebewesen in eine systematische Ordnung zu bringen. Wer allerdings selbst nicht Biologe ist, dem ist der Begriff Taxonomie in diesen Wochen und Monaten vermutlich zum ersten Mal in einem ganz anderen Zusammenhang begegnet: Denn der Begriff hat es erst vor kurzem in die populären Medien geschafft, seit in der Europäischen Union darüber gestritten wird, welche Formen der Energieerzeugung mit dem Prädikat „nachhaltig“ ausgezeichnet werden sollen und welche damit Aufnahme in die seit 2020 in Arbeit befindliche EU-Taxonomie für nachhaltige Wirtschafts-Aktivitäten finden sollen. So weit, so notwendig, denn der Nachhaltigkeitsbegriff ist im Prozess seiner Popularisierung ziemlich verwässert worden. Problem nur, es ist geplant, auch Atom- und Gaskraftwerke als ökologisch nachhaltig einzustufen, was insbesondere in Deutschland zu heftigen Protesten geführt hat. Ausgerechnet Atomkraft nachhaltig? Das ruft naturgemäß Unverständnis hervor. Ist das der europäische „green deal“, den die deutsche Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen nicht müde wird, in den höchsten Tönen zu preisen?
Auf der Internetseite der EU-Kommission heißt es, die EU-Taxonomie sei „ein Klassifikationssystem, das Unternehmen, Investoren und politischen Entscheidungsträgern geeignete Definitionen dafür liefert, welche wirtschaftlichen Aktivitäten als ökologisch nachhaltig angesehen werden können. Auf diese Weise soll sie Sicherheit für Investoren schaffen, private Anleger vor Greenwashing schützen, Unternehmen helfen, klimafreundlicher zu werden, die Marktfragmentierung abschwächen und dazu beitragen, Investitionen dorthin zu lenken, wo sie am dringendsten benötigt werden." Die Taxonomie soll also vor allem Finanzinvestoren verlässliche Informationen dafür liefern, ihr finanzielles Engagement dorthin zu lenken, wo sie berechtigter Weise als nachhaltig eingestuft werden können und so z.B. auch Privatmenschen, die ihr Geld zur Finanzierung nachhaltiger Aktivitäten anlegen wollen, die Sicherheit geben, dass wirklich Nachhaltigkeit drin ist, wo Nachhaltigkeit draufsteht.
Das Vorhaben ist begrüßenswert, um nicht zu sagen überfällig. Denn der Begriff der Nachhaltigkeit ist inzwischen soweit verkommen, dass er wegen seines inflationären Gebrauchs vor allem in der Unternehmenswerbung bei vielen nur noch Abwehrreaktionen hervorruft. „Nachhaltigkeit ist die Maxime unseres täglichen Handelns“ hört man von einem Automobilhersteller. „Trinken sie nachhaltig“ wirbt ein Hersteller von Glas-Trinkhalmen … Selbst die 17 Nachhaltigkeitsziele der Vereinten Nationen, so gut sie gemeint sein mögen, kommen als Wunschzettel daher, in dem fast jeder etwas finden kann, das ihm erstrebenswert erscheint.
Was seitens der EU-Kommission geschehen ist und für Verwirrung sorgt, ist die Verabschiedung eines ergänzenden „delegierten Rechtsakts“ zur Klimataxonomie, der nun dem EU-Parlament und dem Europäischen Rat zur abschließenden Stellungnahme vorliegt und nach deren Prüfung und Zustimmung in Kraft tritt, wenn nicht Widerspruch eingelegt wird. Darin werden wirtschaftliche Tätigkeiten in den Bereichen Kernenergie und Erdgas (u.a. der Betrieb von Kern- und Gaskraftwerken) unter bestimmten Bedingungen als taxonomiekonform benannt. Der Stein des Anstoßes ist also eine nachgeordnete technische Umsetzungsbestimmung, nicht die Taxonomie selbst. Damit diese Bestimmung nicht in Kraft tritt, was z.B. die deutsche Ampelkoalition wünscht, müssten im Rat mindestens 20 Mitgliedstaaten und/oder im Parlament mindestens 353 Abgeordnete den Rechtsakt ablehnen. Womit nicht gerechnet wird.
Die eigentliche EU-Taxonomie, zu deren Umsetzung im Bereich Energieerzeugung der Rechtsakt dienen soll, ist bereits seit Juni 2020 in Kraft. Sie nimmt Bezug auf die Nachhaltigkeitsziele der EU und stellt den Versuch dar, sukzessive sämtliche für diese Ziele relevanten Wirtschaftstätigkeiten in Bezug darauf zu klassifizieren, ob und in welchem Umfang sie einen Beitrag zur Erreichung dieser Ziele leisten oder im umgekehrten Falle die Erreichung der Ziele beeinträchtigen. Für den einfachen, in der Rechtssprache ungübten Bürger ist die „Verordnung (EU) 2020/852 des Europäischen Parlaments und des Rates über die Einrichtung eines Rahmens zur Erleichterung nachhaltiger Investitionen und zur Änderung der Verordnung (EU) 2019/2088)“ allerdings ziemlich starker Tobak, sprich ein schwer verständliches europäisches Gesetz. Der Text umfasst 31 Seiten, davon allein 13 Seiten Vorrede in Form einer Auflistung der 60 Gründe, die den europäischen Gesetzgeber zum Erlass der Taxonomie bewogen haben. Dann werden in 3 Kapiteln und insgesamt 27 Artikeln die Bestimmungen im Einzelnen dargelegt.
Deren Inhalt in aller Kürze:
1. Die EU-Nachhaltigkeitsziele sind: Klimaschutz, Anpassung an den Klimawandel, die nachhaltige Nutzung und der Schutz von Wasser- und Meeresressourcen, der Übergang zu einer Kreislaufwirtschaft, Vermeidung und Verminderung der Umweltverschmutzung, der Schutz und die Wiederherstellung der Biodiversität und der Ökosysteme.
2. Eine Wirtschaftstätigkeit wird als ökologisch nachhaltig eingestuft, wenn sie einen wesentlichen Beitrag zur Verwirklichung eines oder mehrerer der Umweltziele leistet, nicht zu einer erheblichen Beeinträchtigung eines oder mehrerer der Umweltziele führt, unter Einhaltung des festgelegten Mindestschutzes ausgeübt wird und den technischen Bewertungskriterien entspricht, die die Kommission festlegt.
3. Die Emittenten von Finanzprodukten und die einschlägig betroffenen Unternehmen müssen transparent informieren, ob und in welchem Umfang sie ökologisch nachhaltig im Sinne der Taxonomie wirtschaften bzw. in entsprechende wirtschaftliche Aktivitäten investieren.
4. Die Taxonomie definiert im Einzelnen, was „wesentliche Beiträge zur Erreichung der Umweltziele“ sind bzw. überträgt der Kommission das Recht, dieses in delegierten Rechtsakten detailliert festzulegen.
5. Ebenso definiert das Gesetz sog. „ermöglichende Tätigkeiten“ als ökologisch nachhaltig, wenn sie „es unmittelbar anderen Tätigkeiten ermöglichen, einen wesentlichen Beitrag zu einem oder mehreren dieser Ziele leisten“. Es klärt auf, was zu vermeidende „erhebliche Beeinträchtigungen“ der Umweltziele sind und was unter dem unter 2. genannten Mindestschutz zu verstehen ist.
6. Zu guter Letzt wird die Kommission beauftragt, ein Beratungsgremium einzurichten, genannt „Plattform für ein nachhaltiges Finanzwesen“, das aus Vertreter*innen der interessierten Kreise (Lobbyisten und Wissenschaftlern) besteht und die Kommission in allen Fragen im Zusammenhang mit der Taxonomie und ihrer Anwendung „berät“.
Die Taxonomieverordnung definiert mithin den Rahmen, innerhalb dessen sich Wirtschaftstätigkeiten bewegen müssen, um gemäß der Verordnung als nachhaltig eingestuft zu werden. Für solche Tätigkeiten will die Verordnung Investoren die Sicherheit geben, dass es sich um nachhaltige Wirtschaftstätigkeiten handelt, in die sie „guten Gewissens“ investieren können. Dabei werden allerdings nicht nur genuine Nachhaltigkeitsaktivitäten wie die Bereitstellung von grünem Strom aus Wind, Sonne und Wasser als nachhaltig charakterisiert, sondern auch nicht nachhaltige Aktivitäten von Unternehmen, wenn sie z.B. bezogen auf den Klimaschutz „Treibhausgasemissionen aufweist, die den besten Leistungen … der Industrie entsprechen, die Entwicklung und Einführung CO2-armer Alternativen nicht behindern und in Anbetracht der wirtschaftlichen Lebensdauer von CO2-intensiven Vermögenswerten nicht zu Lock-in-Effekten bei diesen Vermögenswerten führen.“ (Art. 10.2) Damit wird zum einen der sog. „best-in-class-Ansatz“ übernommen, der auch im konventionellen Nachhaltigkeitsrating Anwendung findet. Zum anderen wird aber ausdrücklich ausgeschlossen, dass Aktivitäten als nachhaltig bezeichnet werden können, die auf mittlere Sicht verhindern, dass weitergehende Innovationen Platz greifen können. Denn „lock-in“ meint hier, dass durch Investitionen in diese Aktivitäten der Übergang zu echten Nachhaltigkeitstechniken be- oder gar verhindert wird.
Unternehmen, die an „nachhaltiges“ Kapital kommen wollen, müssen auf dem Wege der differenzierten nicht-finanziellen Rechenschaftslegung darüber informieren, dass sie die definierten Nachhaltigkeitskriterien erfüllen. Dies geschieht bisher auf Grundlage der sog. CSR (Corporate Social Responsibility)-Richtlinie, die bereits seit 2017 in Kraft ist und europaweit mehr als 11.000 große Unternehmen verpflichtet, jährlich über Nachhaltigkeitsaspekte ihrer Tätigkeit zu unterrichten. Nach Einschätzungen der EU-Kommission hat „die Qualität der Informationen, die Unternehmen gemäß der Richtlinie offenlegen, sich jedoch durch diese Leitlinien nicht im ausreichenden Maß verbessert.“ Daher hat die Kommission nun einen verbesserten Entwurf vorgelegt, der ab 2023 anzuwenden sein wird. Er enthält wesentlich präzisere Vorgaben, erweitert den Kreis der berichtspflichtigen Unternehmen und unterliegt einer Prüfungspflicht wie die konventionelle Bilanz auch. Wie die Taxonomie selbst ist auch dies eigentlich ein lobenswerter Schritt nach vorn, den die bisherigen CSR-Berichte waren zumeist reine Unternehmenswerbung.
Was ist nun aber mit der Nachhaltigkeit von Atom- und Gaskraftwerken?
Inhaltlich gibt es keinerlei Zweifel: Sie sind natürlich nicht nachhaltig. Atomkraft ist schmutzig und hochsriskant. Mindestens zwei Reaktoren sind weltweit bereits explodiert und haben nachhaltige Schäden angerichtet. Atomkraft basiert auf endlichen Ressourcen. Das Endlagerproblem ist ungelöst. Auch Gas ist eine endliche Ressource. Seine Verbrennung emittiert viel CO2. Es mag im Übergang technisch hilfreich sein. Wirtschaftlich behindert es wegen des oben erwähnten lock-in-Effekts aber den Übergang zu grünem Strom.
Folgt man dem Artikel 10 buchstabengetreu, auch dann sind beide Technologien nicht nachhaltig. Denn wer heute noch mit Hilfe frischen Kapitals ein Atom- oder Gaskraftwerk bauen würde, könnte dies wegen der langen Bau- und Genehmigungszeiträume erst in frühestens 6-8 Jahren in Betrieb nehmen und würde das auch nur tun, wenn er das gute Stück mindestens 50 Jahre nutzen dürfte. Typisch lock-in. Typisch Behinderung CO2-armer Alternativen. Verstoß gegen Wortlaut und Sinn der Taxonomie-Verordnung.
Der Grund, warum der „delegierte Rechtsakt“ die beiden Technologien dennoch nennt, muss also anderswo verortet sein. Wie andere Kritiker auch, vermute ich die Ursache im EU-typischen politischen Geklüngel zwischen Kommission und Rat. Französische Lobbyisten (auch aus der Regierung selbst) wollen ihre staatlichen Atomanlagen schützen und weiter betreiben. Deutsche Lobbyisten (mit Gazprom im Hintergrund) wollen unbedingt Gas als „Übergangstechnologie“ sichern. Und die etablierte Energiewirtschaft will verhindern, dass die Energiewende doch noch in Form einer radikalen Abkehr vom großindustriellen Geschäftsmodell hin zum Modell der Bürgerenergie vollzogen wird. Man kann nur hoffen, dass das EU-Parlament doch noch den Widerspruch einlegt, der dann Kommission und Rat zum Umdenken bewegt.
Was bei der EU „hinten raus kommt“, ist des Öfteren beinahe das Gegenteil von dem, was die Initiatoren ursprünglich beabsichtigt hatten. So werden an sich löbliche Initiativen der EU im Dschungel der Wirtschaftsinteressen in ihr Gegenteil verkehrt. Hier auch. Wer also sein Geld „nachhaltig“ anlegen will, kann sich auf die EU-Taxonomie nur begrenzt verlassen. Wie immer hilft nur genaues Hinsehen, um sicherzustellen, dass „grün“ drin ist, wo „grün“ draufsteht.