Wer geht voran, Anbieter oder Nachfrager?

 

 

  Philosophen haben immer wieder gefragt, was eher da war, die Henne oder das Ei. Gern wird die Henne-Ei-Metapher auch als rhetorische Frage verwendet, wenn auf die Unlösbarkeit eines Problems hingewiesen werden soll. Evolutionstheoretisch ist die Frage jedoch durchaus beantwortbar: Eier gibt es viel länger als Hühner. Eier, aus denen Hühner schlüpfen, jedoch erstmals nach der ersten Gen-Mutation in einem von einem Huhn-Vorfahren gelegten Ei, aus dem das erste Huhn geschlüpft ist, wie uns die Wissenschaftspublizistin Mai Thi Nguyen-Kim in mailab erklärt. Was aber hat das mit Ökonomie zu tun, gar mit nachhaltiger Ökonomie, um die es in diesem Blog bekanntermaßen geht?

 

  In der Ökonomie gibt es viele Glaubenssätze, unter anderem den von der sog. Konsumentensouveränität. Er lautet: Es sind die Konsumentin oder der Konsument, die die Wirtschaft in einem martktwirtschaftlichen System steuern. Sie sind zuerst da, sie bestimmen, was angeboten und damit was und wie produziert wird. Die Hersteller und die anderen Leistungsanbieter sind ihre Diener, die nur das tun, was ihnen die Herrscher auftragen.

 Bezieht man diesen Satz auf die Wirtschaft insgesamt, dann ist alles was sie ausmacht, auch der ihr innewohnende Drang zu unbegrenztem wirtschaftlichem Wachstum, letztlich vom Willen der Konsumenten bestimmt. Nachhaltiges Wirtschaften, das Ressourcen schont, klimaschädliche Emissionen reduziert oder vermeidet und so auch künftigen Generationen faire Lebensbedingungen bewahrt, ist nur erreichbar, wenn sich der Souverän Konsument dafür einsetzt. Andere Wirtschaftsteilnehmer mögen es noch so sehr bedauern, aber was der Souverän nicht will, geschieht auch nicht.

   Nun haben Glaubenssätze bekanntermaßen ein zähes Leben. Wer sie hinterfragt, darf nicht mit allzu ausgeprägter Bereitschaft der Gläubigen rechnen, seine Argumente anzuhören oder ihnen gar zu folgen. Ich will dennoch den Versuch unternehmen.

   Insbesondere im Konsumsektor leben wir heute nicht mehr in den Zeiten, in denen die Nachfrager für die Produkte und Leistungen, die sie käuflich erwerben möchten, jeweils gesonderte Anfragen an potentielle Anbieter richten und wenn ihnen das Angebot zusagt, einen Auftrag erteilen, der dann ausgeführt und gegen Zahlung des vereinbarten Kaufpreises übergeben wird. Insbesondere die Anbieter von Konsumgütern produzieren für den anonymen Markt. Selbst hochwertige Produkte und Leistungen - Autos oder sogar Eigenheime – werden „auf Verdacht“ in der Hoffnung produziert und angeboten, dass sich zu dem geforderten Preis Käufer finden werden.

   Ein solches marktliches Angebot kommt zustande, wenn sich ein Unternehmen dazu entschließt, eine Ware – Produkt oder Dienstleistung – auf den Markt zu bringen. In Zeiten differenzierter Methoden der Marktforschung wird der Anbieter vor der Markteinführung versuchen zu ermitteln, über welche Merkmale das Produkt verfügen sollte, um zu erreichen, dass sein Angebot auf eine ausreichende Zahl von Nachfragern stößt, die sich dafür interessieren und auch den von ihm geforderten Preis zahlen können und wollen. Nur wenn die Marktforschung derartige Erfolgsaussichten zutage fördert, wird die Ware auf den Markt gebracht. Ob es dann Erfolg hat oder floppt, ist und bleibt aber ungewiss. Die Henne Anbieter legt also ein neues Ei, und zwar im Gegensatz zum echten Huhn eines, das sich von den Eiern der anderen Hühner möglichst deutlich unterscheidet.

   Dem potentiellen Käufer begegnet das Angebot in Form von werblichen Anpreisungen. Wie die echte Henne muss der Anbieter vernehmbar gackern, damit sein Angebot wahrgenommen wird. Manchmal tut er das so laut, dass es den anvisierten Nachfragern ziemlich auf die Nerven geht, man denke nur an die kaum erträglichen Fernsehspots für ein Darmtherapeutikum kurz vor der Tagesschau. Hier lautet die Devise offenbar: nur wenn ihr alle kauft, stellen wir die Nervensäge wieder ab.

  Die Anbieter gehen in Vorleistung, indem sie entwickeln, produzieren, werben und dafür Kosten auf sich nehmen, die oft nicht unerheblich sind. Dann erst kommen die Nachfrager ins Spiel. Sie sollen kaufen, was sie gar nicht bestellt haben, aber eigentlich schon immer hätten haben wollen sollen. Handys, Fertigpizzas, Raumluftsprays und was auch immer sonst noch, hatte, bis Anbieter sie auf den Markt brachten und dafür warben, vermutlich kaum ein Mensch auf dem Wunschzettel. Als es sie dann gab und für sie mit bunten Bildern geworben wurde, entstanden Interesse, Nachfrage und schließlich Käufe. Souveräne Konsumenten?

   Sicher ist aber auch: Wenn nicht genügend Menschen die angebotenen Produkte kaufen, dann verschwindet das Angebot wieder vom Markt. Kein Anbieter kann dauerhaft an einem Warenangebot festhalten, wenn er nicht die Umsätze und Gewinne erzielen kann, die er sich vorstellt bzw. benötigt, um erfolgreich zu bestehen. Insofern treffen die Konsumentinnen und Konsumenten ein nachträgliches Urteil, indem sie kaufen oder nicht kaufen.

   Nehmen wir das Beispiel Kleidung: Oft mehr als zweimal im Jahr entwickeln Modefirmen ihre Kollektionen und bringen sie in die Läden, jeweils bestimmte Schnitte, Dessins und Farben. Die Händler drucken Prospekte, Influencer*Innen nutzen das vermeintliche Vertrauenspotential, das ihnen zugebilligt wird, Modejournalisten berichten in Wort und Bild. Dann sind die Menschen dran, ihre Wahl zu treffen. Ganz schnelle stehen schon vor den Läden, wenn die neuen Kollektionen noch gar nicht ausgepackt sind, um ja den neuesten Schrei zuerst zu haben. Andere folgen, mancher findet die neue Mode vielleicht nicht attraktiv und hält sich zurück, die letzten schlagen im Schlussverkauf zu, der oft schon beginnt, wenn die anvisierte Jahreszeit noch gar nicht recht begonnen hat. Dann beginnt das Spiel von neuem. Souveräne Konsumenten?

   Kehren wir den Blick einmal um: Ein Konsument wünscht sich z.B. eine grüne Hose, am liebsten mit Schlag, wie sie die Zimmerleute tragen. Wird er eine finden? Wohl kaum, jedenfalls wenn die aktuelle Mode grüne Schlaghosen nicht vorsieht. Vielleicht wenn er sie beim Schneider anfertigen lässt, aber auch dort wird er sich mit dem Stoffangebot zufrieden geben müssen, das vorhanden ist. König Kunde, Königin Kundin? Eine echte Königin wie etwa Elisabeth von England, bekommt genau das Kleid und den Hut, die sie bestellt hat und trägt zumindest in der Öffentlichkeit auch das nur einmal. Wir anderen müssen das kaufen, was es gibt oder auf neue Klamotten verzichten. Nicht jeder Einzelne bekommt seine Wünsche erfüllt, sondern nur die zahlungsfähigen Kunden in ihrer Gesamtheit. Und das gilt nicht nur für Kleidung.

   Zweifellos sind die Konsumenten nicht machtlos. Sie treffen ihre Urteile, indem sie kaufen oder nicht kaufen, aber sie können nur wählen, was sie angeboten bekommen. Die Henne Anbieter legt ihre Eier, die Nachfrager am Konsumgütermarkt können die Eier annehmen oder ablehnen, mehr nicht. Wenn sie z.B. ein bestimmtes Angebot besonders häufig kaufen, werden andere Anbieter ähnliche Produkte auf den Markt bringen, um ihren Teil vom Kuchen abzubekommen. Das ist z.B. bei den sog. SUVs passiert, von denen heute praktisch jeder Autohersteller mehrere im Angebot hat, weil die Kunden sie viel gekauft haben. Eine nachträgliche Abstimmung mit den Füßen.

   Vom Konsumenten als dem Herrscher über die Wirtschaft zu sprechen, halte ich vor diesem Hintergrund aber für unangebracht. Die Nachfrager sind immer erst an der Reihe, wenn das Angebot bereits auf dem Markt ist, und auch dann wird noch versucht, ihnen mit allen verfügbaren Mitteln klarzumachen, dass das was es gibt, das ist, was sie eigentlich schon immer haben wollten und dass das, was sie bisher hatten, überhaupt nicht mehr hipp ist.

   Jetzt zur Nachhaltigkeit: Ob bei Lebensmitteln, bei Reisen oder elektrischem Strom, immer wieder klagen die Anbieter, dass ihre Kunden nur auf den Preis gucken und das notwendig etwas teurere Öko-Angebot verschmähen. Sie täten ja gern mehr, wenn nur die Konsumenten vorangingen. Das ist scheinheilig, denn das entsprechende Öko-Angebot ist tatsächlich von vornherein ein Nischenangebot, adressiert an die wenigen, die von sich aus auf Merkmale wie Regionalität, Reparaturfreundlichkeit, Naturverträglichkeit und dergleichen achten. Und es ist teurer wie andere neue Produkte auch, weil es nur in geringen Stückzahlen hergestellt wird.

  Aber kaum ein Anbieter geht voran und sagt, Öko-Produkte sind das, was ihr schon immer haben wolltet, aber bisher nicht auf dem Schirm hattet. In Start-ups, die Computerspiele oder andere Internetschnickschnacks entwickeln und anbieten, wird massenhaft Risikokapital investiert, Öko-Start-ups bekommen oft nicht einmal einen Bankkredit. Hat uns, die wir zusammen König Kunde sein sollen, schon mal jemand angefragt, ob uns Wirtschaftswachstum wichtiger ist als Klimaschutz?

   Verbraucherinnen und Verbraucher sind aber keine Schafherde, die die Anbieter genau dahin treiben kann, wo sie sie hinhaben wollen. Widerstand ist möglich, wenn wir nur das kaufen, was wir wirklich benötigen und global für fair und zukunftsfähig halten. Nahezu überall ist weniger mehr. Aber zu behaupten, solange die Konsumenten es nicht wollen, gäbe es eben kein nachhaltiges Wirtschaften, das stellt die Dinge auf den Kopf. Wenn die Anbieter wirklich wollten, hätten sie die erste Option. Die Konsumenten würden folgen.