Beruf und sonst nichts?

  Für den folgenden Artikel ist wieder einmal Corona verantwortlich. Die aktuellen politischen Auflagen führen in vielen Gewerben zum totalen Stillstand. Wer nur Koch kann oder Eventmanager, ist derzeit schon viele Monate arbeitslos oder auf Kurzarbeit. Die berufliche Spezialisierung erweist sich als Sackgasse, denn der Staat unterbindet für viele die Berufsausübung. Dabei sehen die meisten heutigen Menschen die Ausübung einer Berufstätigkeit als alternativlos an. Denn sie schafft erst die Möglichkeit, mit dem Berufseinkommen seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Und die Ökonomen werden nicht müde zu betonen, dass in Spezialisierung und Arbeitsteilung der Schlüssel zu allgemeinem gesellschaftlichen Wohlstand liegt. Berufliche Spezialisierung, Segen oder Sackgasse? Schauen wir genauer hin.

  Das abgebildete Denkmal stellt Adam Smith dar, den „Vater“ der Marktwirtschaft. In seinem berühmten Buch „ Der Reichtum der Nationen“ singt er das Loblied der Arbeitsteilung und macht sie für den Wohlstand der Menschen in einer Marktwirtschaft verantwortlich. Dazu erzählt er das berühmte Stecknadelbeispiel: Ein Arbeiter könnte, selbst wenn er sehr fleißig ist, täglich höchstens eine, sicherlich aber keine zwanzig Stecknadeln herstellen. Aber so, wie die Herstellung von Stecknadeln heute betrieben wird, zerfällt sie in eine Reihe getrennter Arbeitsgänge, die zumeist zur fachlichen Spezialisierung geführt haben. Der eine Arbeiter zieht den Draht, der andere streckt ihn, ein dritter schneidet ihn, ein vierter spitzt ihn zu, ein fünfter schleift das obere Ende…Um eine Stecknadel anzufertigen, sind somit viele verschiedene Arbeitsgänge notwendig, die jeweils verschiedene Arbeiter besorgen. Ich selbst habe eine kleine Manufaktur dieser Art gesehen, in der nur 10 Leute beschäftigt waren, so dass einige von ihnen zwei oder drei solcher Arbeiten übernehmen mussten. Obwohl sie nur sehr arm und nur recht und schlecht mit dem nötigen Werkzeug ausgerüstet waren, konnten sie zusammen täglich etwa 48 000 Nadeln herstellen, jeder also ungefähr 4800 Stück. Sobald die Teilung der Arbeit in einem Gewerbe möglich ist, führt sie zu einer entsprechenden Steigerung ihrer Produktivität. In diesem Vorteil dürfte der Grund zu suchen sein, dass es überhaupt zu verschiedenen Gewerben und Berufen kam. Auch ist die Spezialisierung gewöhnlich in Ländern am weitesten fortgeschritten, die wirtschaftlich am höchsten entwickelt sind (gekürzt aus „Der Reichtum der Nationen“ 10. Aufl.2003, S. 9-10).

  In der Tat sind die Arbeitsteilung und damit verbunden die berufliche Spezialisierung der arbeitenden Menschen heute noch wesentlich weiter fortgeschritten als zu Smith’s Zeiten (einmal abgesehen davon, dass Stecknadeln heute von Automaten weitgehend ohne menschliches Zutun hergestellt werden). Fließbandarbeit ist diejenige Form der Arbeitsorganisation, die den gesamten Leistungsprozess in kleinteilige Arbeitsschritte unterteilt und den daran tätigen Menschen nur noch wenige Handgriffe überlässt und immer mehr Roboter einsetzt.

  Dabei ist selbstverständlich nicht jeder Beruf wie die Fließbandarbeit auf die Erledigung weniger Handgriffe reduziert. Viele handwerkliche Berufe wie der des Geigenbauers oder des Landwirts z.B. ermöglichen den Menschen, die sie ausüben, Leistungen vom Anfang bis zum fertigen Gesamtergebnis zu erbringen. Alle Berufe aber sparen den größten Teil der Tätigkeiten aus, die Menschen zur Sicherung ihrer Lebensgrundlagen ausüben müssen. Sie machen die Berufstätigen abhängig davon, dass andere ihnen die Dinge und Leistungen zur Verfügung stellen, die sie in ihrem Beruf nicht schaffen, aber zum Leben benötigen oder zumindest haben möchten.

  Es gibt natürlich nicht nur Arbeitsteilung zwischen verschiedenen Beschäftigten in einem Unternehmen, sondern auch zwischen Unternehmen. Auch sie haben heute ein sehr begrenztes Leistungsspektrum. So erledigen z.B. selbst die großen Automobilhersteller nur noch weniger als 1/3 der mit der Produktion eines Autos verbundenen Aufgaben, vor allem die Motorenherstellung und die Endmontage. Die meisten Teile werden von spezialisierten Zulieferern produziert und „just in time“ angeliefert.

  Die Folge ist eine immer engere berufliche Spezialisierung. Zwar hat sich die Zahl der Lehrberufe in Deutschland seit den 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts von gut 600 auf 325 nahezu halbiert. Mit einem Beruf ist jedoch immer ein hohes Maß an Begrenzung verbunden, die nicht nur das aktuelle Tätigkeitsfeld eingrenzt, sondern auch oft dazu führt, dass eine Neuorientierung z.B. nach dem Verlust des Arbeitsplatzes schwer fällt oder als unmöglich angesehen wird. Das zeigt sich z.B. daran, dass die Kohlekumpel im Braunkohlentagebau vehement gegen die Stilllegung der Kohleförderung eintreten, weil sie keinen anderen Beruf als ihren aktuellen ausüben wollen oder können.

 Schon im Bildungswesen ist die Orientierung auf berufliche Arbeit dominant. Das beginnt bei der Gewöhnung der Kinder an einen zeitlich eng getakteten Alltag und setzt sich fort in der wachsenden Vernachlässigung allgemeiner kultureller, politischer und sozialer Kompetenzen. So ist in Deutschland sogar das Bachelor-Studium berufsorientiert, das im angelsächsischen Raum, aus dem es übernommen wurde, überwiegend der Allgemeinbildung dient. Berufsfähigkeit ist die alles überstrahlende Kompetenz, Bildung verkümmert zur Berufsausbildung, nicht nur in der institutionalisierten Berufsausbildung, sondern in naherzu allen Sparten des schulischen Bildungswesens.

  Wer einen Beruf ausübt, geht oft lebenslang einer sich ständig wiederholenden Tätigkeit nach, die ihn zum Fachidioten macht. Vor allem sehr einfache Tätigkeiten, die eine geringe Qualifizierung erfordern, sind oft hoch spezialisiert, lassen aber berufliche Wechsel in andere einfache Tätigkeiten dafür leichter zu. Mit dem Nachteil, dass sie zumeist schlecht bezahlt werden. Lediglich Berufe wie der eines freien Künstlers beinhalten relativ weite Spielräume, aber auch sie bleiben spezialisiert, Berufe eben. Sie werden ausgeübt, um Geld zu verdienen, um damit die Mittel, die man zum Leben benötigt, käuflich zu erwerben.

 Ein weiteres kommt hinzu, das unter Nachhaltigkeitsgesichtspunkten besondere Bedeutung hat. Die auch durch Mechanisierung und Automation gesteigerte Produktivität der Arbeit setzt Unternehmen instand, immer mehr Produkte in immer kürzerer Zeit zu produzieren. Sie generiert wirtschaftliches Wachstum. Spezialisierte Unternehmen überschwemmen die Welt mit immer mehr Waren. Wer nichts anderes als eine bestimmte Leistung erbringen kann, muss viel davon erstellen und verkaufen, um dauerhaft Gewinne erzielen zu können. Wo sich die regionale Nachfrage als begrenzt herausstellt, werden neue Märkte erobert. So produzieren deutsche Fleischfabriken mit Sojafutter aus Lateinamerika Schweine für China, jeder das, was er auf Grund spezialisierter Fähigkeiten am kostengünstigsten tun kann. Mit all den fatalen ökologischen Folgen, die diese Art der finanzgetriebenen Globalisierung mit sich bringt.

  Für einen besonderen Aspekt spezialisierter beruflicher Arbeit hat Karl Marx den Begriff der Entfremdung geprägt . Dieser umfasst mehrere Aspekte: Der spezialisierte Arbeitnehmer schöpft seine Fähigkeiten nur zum geringen Teil aus. Zwingend überlässt er die Festlegung seiner Arbeitsinhalte anderen und hat auch keine Entscheidungsgewalt über das Produkt seiner Arbeit, denn das gehört ebenfalls anderen. Wie dieses Produkt aussieht, entscheiden andere. Wenn der Produzent es haben will, muss er es vom Eigentümer kaufen, wie dies etwa die Automobilarbeiter tun, wenn sie zu Sonderpreisen Werksautos kaufen. Die Identifikation mit Arbeitsinhalten und Arbeitsprodukt ist zumindest erschwert, wenn nicht unmöglich. So verkümmern Fähigkeiten, die im spezialisierten Arbeitsprozess nicht benötigt werden und die Abhängigkeit von Lohnarbeit zum Erwerb von Geldeinkommen wächst.

 Die Unterordnung des Lebens unter den Beruf führt zudem dazu, dass sich immer mehr Menschen zu hoher beruflicher Mobilität gezwungen sehen, sei es, dass sie aus beruflichen Gründen umziehen oder mehr oder weniger weit zum Arbeitsplatz pendeln. insbesondere sog. Fernpendler nehmen dabei vielfältige persönliche Belastungen auf sich, nur um einen beruflich adäquaten Arbeitsplatz behalten oder annehmen zu können.

 Corona deckt diese Zusammenhänge in besonderer Weise auf. Der sog. Lockdown lässt viele Menschen auch ohne formale Kündigung „arbeitslos“ werden, selbst wenn er z.B. in Deutschland weite Teile der industriellen Arbeitswelt ausspart, um „die Wirtschaft“ zu schonen. Zwar werden wirtschaftliche Folgen abgemildert z.B. durch Kurzarbeitergeld und Zuschüsse für Selbständige und Künstler. Viele betroffene Menschen jedoch kommen sich nutzlos vor und wollen vielfach nur noch eines: wieder in ihren Berufen arbeiten. Denn ihr Einkommen ist trotz staatlicher Hilfe deutlich geringer und ihr Tag nicht mehr durch Arbeit ausgefüllt, die soziale Anerkennung und trotz aller Begrenzungen „Sinn“ stiftet. Zurück in den Beruf, so schnell es geht, ist für die meisten die Devise. Dieser Wunsch ist nur allzu verständlich. Denn ohne berufliche Betätigung in einem Lohnarbeitsverhältnis oder als Selbständiger sind die gewohnte Lebensperspektive und die existentielle Sicherheit gefährdet.

 Trotzdem meine ich, es ist zu kurz gedacht. Wenn wir ein gutes Leben für uns und möglichst viele andere Menschen auf dieser Welt erreichen wollen, eröffnet uns die verordnete Arbeitsruhe die Möglichkeit, einmal grundsätzlicher über Arbeit und Leben in der Zukunft nachzudenken. Denn mit der Rückkehr in die Berufe wird doch in Wahrheit nur das Leben wiederhergestellt, das 85% der deutschen Arbeitnehmer mit ihrer Arbeit unzufrieden macht. Die Alternative zur Berufsfixierung mit allen ihren Schwächen könnte heißen, sich zu besinnen auf außerberufliche Fähigkeiten und Tätigkeiten. Wenn man schon gezwungen ist, den Beruf ruhen zu lassen, kann man dies doch als Chance nutzen, zumindest in Gedanken etwas zu tun, wovon einen die Fixierung auf den Beruf bisher abgehalten hat.

 Das wäre, dass diejenigen, die unter Corona-Bedingungen ihre Berufe nicht ausüben können, einmal darüber nachdenken, ob nicht Vielfalt statt Einfalt eine Alternative eröffnen könnte, wie Friedrich Engels und Karl Marx sie für den von ihnen angestrebten Kommunismus dargestellt haben: „Heute dies, morgen jenes zu tun, morgens zu jagen, nachmittags zu fischen, abends Viehzucht zu betreiben, nach dem Essen zu kritisieren, wie ich gerade Lust habe, ohne je Jäger, Fischer, Hirt oder Kritiker zu werden.“ (Marx/Engels/Werke Band 3, Berlin 1969, S. 33) Für heute hieße das, sich zu fragen: Welche Tätigkeiten könnten das sein, die mir Spaß machen und mich ausfüllen, auch wenn ich mich sicher anfangs noch ziemlich ungeschickt anstelle und meinen Lebensunterhalt damit nicht sichern könnte?

 Solche Gedanken zu verfolgen, stellt einen Ausblick in eine nachhaltigere Zukunft dar. Denn in Nach-Corona-Zeiten, wann immer das sein mag, könnte die zumindest teilweise Abkehr vom Berufstrott umgesetzt werden. Anstelle von Sozialhilfe und anderen Staatsleistungen können ein bedingungsloses Grundeinkommen eingeführt und die tariflich vereinbarte Lohnarbeitszeit spürbar verkürzt werden. Dadurch wird die Masse der produzierten Waren verringert und die von Verkaufs- und Wachstumszwängen getriebene Wirtschaft wird heruntergefahren. Menschen gewinnen freie Zeit für die Nutzung und Entwicklung anderer Fähigkeiten und Wünsche, ohne dass dies ihre Existenz gefährdet, denn das Grundeinkommen ist gesichert oder die neuen Tätigkeitsfelder bieten ebenfalls Einkommens-Perspektiven. Weniger von allem, aber mehr Vielfalt, Sinn und Zufriedenheit. Auch die politische Teilhabe am Gemeinwesen wird wieder möglich und beschränkt sich nicht nur auf das Kreuz am Wahltag.

 Corona macht es möglich, darüber nachzudenken und es vielleicht sogar anzugehen.