Ist die Wirtschaft schuld an der Ökokrise?

Wenn ich mich in Gesprächen mit mir bisher unbekannten Menschen als Betriebswirt zu erkennen gebe, dann sehe ich immer wieder den Vorbehalt aufscheinen, der meinem akademischen Fachgebiet insgesamt von vielen Nicht-Ökonomen entgegengebracht wird. „Aha, einer von der Bereicherungsfraktion, denen es um Geld und Profit und um sonst nichts geht.“ Das ist nur allzu verständlich, denn es sind oft genug Betriebswirte, die in Theorie und Praxis das hohe Lied der Gewinnmaximierung singen. Kosten runter, Preise rauf, koste es was es wolle. So z.B. der ehemalige US-Hedgefondsmanager Martin Shkreli, der eine Firma gründete, um damit das lange am Markt eingeführte Toxoplasmose-Medikament Daraprim von dem bisherigen Allein-Hersteller zu erwerben. Erste Maßnahmen nach dem Erwerb: Ein Konkurrenzangebot von Generika zu verhindern und dann Preiserhöhung von 13,50 $ pro Pille auf 750 $. Das ist mehr als das 50fache! Da heißt es dann schnell: So sind sie eben, die Betriebswirte!

 Jetzt ist natürlich mein Widerspruch gefordert: Einige mögen genau so sein, aber es gibt auch viele andere. Und das führt mich zurück zu der im Titel aufgeworfenen Frage. Um sie zu beantworten, muss man ebenfalls genauer hinschauen und differenzieren. Das möchte ich im Folgenden tun.

 

Nicht nur am Stammtisch, auch in den Medien wird immer wieder „die Wirtschaft“ angeprangert, die als Verursacher nicht nur des schrankenlosen Wachstums, sondern auch der sozialen Spaltung der Gesellschaft in Arm und Reich und der von Partikularinteressen statt von Kriterien gesellschaftlicher Nützlichkeit bestimmten Politik der etablierten Parteien ausgemacht wird. Tatsächlich sind derartige Vorwürfe ja auch nicht von der Hand zu weisen. Warum werden z.B. TUI und Lufthansa mit Milliarden unterstützt, kleine Selbständige oder freischaffende Künstler dagegen mit Minibeträgen abgespeist? Warum durften Auto- und Möbelläden in der Coronakrise schon früh wieder öffnen, mussten Kitas und Schulen aber noch wochenlang im „Online“betrieb oder ganz geschlossen bleiben? Warum wurden und werden die Atomindustrie und die Betreiber von Kohlekraftwerken mit Milliardenbeträgen subventioniert, die – ohnehin überwiegend von privaten Verbrauchern finanzierten - Subventionen für grünen Strom dagegen immer weiter zusammengestrichen?

 Wer die eben aufgeworfenen Fragen sorgfältig liest, wird feststellen, dass es in ihnen fast durchweg nicht um Wirtschaft contra Gesellschaft, sondern um Wirtschaft contra Wirtschaft geht. TUI und Lufthansa gelten der Politik als „systemrelevant“ wie in der sog. Finanzkrise die Commerzbank, an der der Staat bis heute beteiligt ist: „too big to fail“ heißt es da. Kleine Hoteliers oder Gastwirte ebenso wie freischaffende Musiker und Kabarettisten dagegen sind das nicht, sie müssen das unternehmerische Risiko weitgehend allein tragen, Pleite inbegriffen, auch unter Corona-Bedingungen. Dass Schulen und Kitas wirklich systemrelevant weil die Grundlage für die Wirtschaft von morgen sind, scheint dabei von der Politik vollständig übersehen zu werden. Und dass kleine und mittlere Unternehmen das erhaltensbedürftige Rückgrat der Wirtschaft bilden, sieht man allein an der Tatsache, dass von den gut 3 Mio. Unternehmen in Deutschland mehr als 2 Mio. Kleinstunternehmen mit weniger als 10 Mitarbeitern sind, wohingegen nur knapp 10.000 Unternehmen mehr als 250 Mitarbeiter haben.

 „Die Wirtschaft“ hat eine fundmentale Gemeinsamkeit, nämlich dass wirtschaftlicher Erfolg für alle Beteiligten eine Notwendigkeit ist. Ansonsten ist sie ein äußerst differenziertes Gebilde. Nicht nur die Größe der Unternehmen ist sehr unterschiedlich, auch ihre Eigentumsverhältnisse (einer oder mehrere und deren Mitwirkung an der Geschäftsführung bzw. Haftungsverpflichtungen), ihre innere Verfassung (Beziehungsgefüge zwischen Eigentümern, Managern und Beschäftigten), ihre Marktposition (Zahl der Konkurrenten und Intensität des Wettbewerbs). Nicht zuletzt prägen verschiedene Branchen unterschiedliche wirtschaftliche Handlungsbedingungen und Handlungsmuster aus, die auch das Verhalten der Mitarbeiter*innen beeinflussen.

So sind z.B. Banken zumeist völlig anders aufgestellt als Bauunternehmen oder Kliniken. Dabei macht nicht nur der Inhalt des Geschäfts den Unterschied – Geld, Beton oder Menschen. Es sind auch die Geschichte der jeweiligen Branche bzw. des Unternehmens, die Größe im Verhältnis zum Branchendurchschnitt, ihre Rolle in der Gesamtwirtschaft und viele andere Faktoren. Nicht zuletzt prägen das persönliche Verhalten der Führungskräfte, deren Führungsstil und die Zahl und der Charakter der Hierarchieebenen die Art und Weise, wie das Unternehmen funktioniert und nach außen auftritt.

 So kann z.B. der Vorstandsvorsitzende des VW-Konzerns jahrelang behaupten, von den illegalen Dieselmanipulationen in „seinem“ Unternehmen nichts gewusst zu haben und dennoch mit goldenem Handschlag in den Ruhestand gehen, während z.B. der Chef von Trigema nicht nur – begleitet von einem Schimpansen - seine Fernsehwerbung selbst macht, sondern auch sonst für alles geradestehen muss, was in seinem Unternehmen passiert. Chefs und Mitarbeiter der Elektrizitätswerke Schönau, eines in Bürgerhand befindlichen Pionierunternehmens für grünen Strom, gehen anders mit dem Atom- und Kohleausstieg um als ihre Kolleg*innen bei RWE, schon weil Letztere fürchten müssen, dass ihre Aktien und Arbeitsplätze mittelfristig kaum noch etwas wert sein werden, während Erstere sich aus Überzeugung auf allen Ebenen für die Energiewende einsetzen.

 Dieses Beispiel macht einen weiteren Aspekt deutlich, der erhebliche Unterschiede zwischen verschiedenen Unternehmen und Branchen herbeiführt: das historische Entwicklungsstadium, in dem sich das spezielle Geschäftsfeld eines Unternehmens oder einer Branche befindet. Denn Geschäftsfelder haben einen „Lebenszyklus“. Sie entstehen oft aus technischen Neuerungen, die mutige Unternehmensgründer auf den Markt bringen. Werden die neuen Leistungen nachgefragt, dann haben sie Erfolg, der Markt wächst. Immer mehr Kunden werden gewonnen, bis die Nachfrage langsam gesättigt ist. Nicht selten kommt es dann zu Nachfragerückgängen, nicht zuletzt hervorgerufen durch neue Angebote, die von den Kunden bevorzugt werden, so dass das alte Angebot immer weniger Käufer findet und schließlich sogar vom Markt verschwindet.

 Dieses Schicksal erlebten z.B. die Pferdedroschke, die Dampfmaschine und die Musikkassette. Zurzeit steht ein derartiger Wandel z.B. für den örtlichen Laden-Einzelhandel, die Verbrenner-Straßenfahrzeuge, die Stromproduktion aus fossilen Brennstoffen und die industrielle Landwirtschaft und Massentierhaltung bevor. Wer diesen Wandel z.B. aus Gründen der Nachhaltigkeit unterstützt, tut gut daran, die Unternehmen, die die neuen Techniken anbieten, zu fördern und die alten abzuwickeln. Diese werden sich naturgemäß mit allen Kräften und ihren Verbindungen zur Politik dagegen stellen, verständlich, aber vermutlich vergeblich. Wer also „die Wirtschaft“ für dies und jenes Negative verantwortlich macht, sollte genauer hinschauen und klarstellen, wen er damit meint. Denn es gibt stets auch das Positive.

 Nun gibt es auf der anderen Seite aber durchaus Gründe dafür, dass der berühmte Mensch auf der Straße „die Wirtschaft“ für ein halbwegs geschlossenes Gebilde mit sehr einheitlichen Einstellungen und Verhaltensweisen hält. Da ist zum einen ihr Auftreten in der Öffentlichkeit, das vielfach von Unternehmensverbänden wahrgenommen wird, die von Großunternehmen dominiert werden und daher vor allem deren Interessen und Sichtweisen vertreten. Das gilt nicht nur für den Bauernverband, in dem vor allem die großen Landwirtschafts“fabriken“ das Sagen haben und z.B. Öko- Bauern kaum zu Wort kommen. Es sind z.B. auch die Automobilwirtschaft mit ihrem VDA und die Chemische Industrie mit dem VCI, die es nicht selten sogar schaffen, auch die jeweiligen Branchengewerkschaften in industriepolitischen Fragen hinter sich zu versammeln.

 Zum anderen hat sich – gleichsam als „Überbau“ der produzierenden Wirtschaft – mit Banken, Finanzdienstleistern, Hedgefonds und anderen „Schattenbanken“ ein weitgehend davon abgekoppeltes Finanzsystem entwickelt, das mit seinem Einfluss als Kapitalgeber die Realwirtschaft dominiert und seinen Interessen unterwirft. Zum anderen führt es ein von der Realwirtschaft weitgehend abgekoppeltes Doppelleben, das mit ungeheuren Summen spekulativen Kapitals in der Lage ist, ganze Volkswirtschaften in Schieflagen zu bringen. Denn die Summen, die da ohne jede realwirtschaftliche Grundlage verschoben werden, sind nicht selten größer als die Staatsbudgets ganzer Länder und haben das mehr als 100fache Volumen des weltweiten Güterverkehrs. Die vor allem von Akteuren dieses Finanzsystems hervorgerufene Finanzkrise 2007/8 führte daher nicht nur zu zahlreichen Unternehmens- und Privatpleiten, sondern auch zu erheblichen finanziellen Problemen der Staaten, die sich zur Krisenbewältigung in immense Schulden stürzten.

 Genug mit den Details, zumal sie hier ja nur angedeutet und nicht ausführlich dargestellt werden können. Wenn gesagt wird, die Wirtschaft sei schuld an den Umweltproblemen, sie verhindere den gesellschaftlichen Umbau in Richtung Nachhaltigkeit, dann ist das richtig und falsch zugleich. Es gibt sie, die Bremser. Sie sitzen auch in den Vorständen der großen multinationalen Unternehmen, nicht nur auf den Regierungssesseln mancher Staaten. Und sie sind mächtig, weil die von ihnen geführten Unternehmen oft schon jahrhundertelang bestehen, lange erfolgreich gewirtschaftet und maßgebliche Akteure aus der Politik auf ihrer Seite haben. Dadurch können sie auch im politischen Bereich viel bewegen oder eben vieles verhindern.

 Es gibt aber auch sehr viele Menschen mit unternehmerischer Verantwortung, die erkannt haben, dass wir umsteuern müssen, um langfristig unsere Lebensgrundlagen nicht zu zerstören. Sie sehen, dass unsere Art zu wirtschaften und vor allem das Streben nach immer mehr nicht zukunftsfähig sind. Deshalb entwickeln sie „grüne“ zukunftsfähige Geschäftsfelder in vielen Branchen. Viele davon setzen sich nicht von heute auf morgen durch. Sie sind nicht selten noch kleiner, entwicklungs- und unterstützungsbedürftiger sind als die etablierten. Das bringt es mit sich, dass diese Unternehmer sich vor allem um ihr Geschäft kümmern müssen, um es zum Erfolg zu bringen oder es dagegen zu schützen, von großen etablierten Wettbewerbern aufgekauft zu werden. Sie finden daher nur in geringem Umfang Zeit und Gelegenheit dazu, sich auf der politischen Ebene einzubringen und durchzusetzen.

 Weil sie sich von den etablierten Unternehmensverbänden nicht vertreten fühlen, haben sie eigene „grüne“ Verbände gegründet wie etwa B.A.U.M., Unternehmensgrün, Bioland und Demeter. Deren politische Macht ist allerdings ihrer Größe und ihres jungen Alters wegen eher gering. Sie werden daher von der Politik vielfach kaum wahrgenommen und finden wenig Gehör. So schlug sich z.B.  die Position der großen fossilen Energieerzeuger sehr wohl im sog. Klimapaket 2019 nieder, das daher eine massive finanzielle Förderung der abzuschaltenden Kohlekraftwerke vorsieht, wohingegen die Position von Klimaaktivisten kaum Beachtung fand.

 Der Umbau von Wirtschaft und Gesellschaft in Richtung Nachhaltigkeit wird nicht gelingen, wenn es dabei bleibt, dass die „alten Industrien“ und ihre Repräsentanten von Politik und Öffentlichkeit als die relevanten Vertreter „der Wirtschaft“ angesehen und ihre Positionen daher auch für politische Entscheidungen von großem Gewicht sind. Es braucht die Zusammenarbeit fortschrittlicher Unternehmen und ihrer Verbände mit Gleichgesinnten in Öffentlichkeit und Politik. Nicht gegen die Wirtschaft, sondern nur im Verbund zwischen Nachhaltigkeits-engagierten Menschen in Politik, Gesellschaft und Wirtschaft kann es gelingen, mit mutigen Schritten noch rechtzeitig auf den Nachhaltigkeitspfad zu kommen. Die F4F-Bewegung hat recht: Für Klimaschutz, Artenvielfalt, Energie-, Verkehrs- und Ernährungswende brauchen wir alle, auch diejenigen in „der Wirtschaft“, die bereit sind, sich von alten Zöpfen zu verabschieden und neue Wege zu gehen.