Die Hörensagen-Gesellschaft

 

… hab‘ ich neulich irgendwo gelesen oder bei facebook gesehen.Wie oft haben wir diesen Satz schon gesagt oder gehört? Sehr vieles, von dem, was wir zu wissen meinen, stammt nicht aus der eigenen Erfahrung oder differenzierten Aneignung, sondern aus der sozialen Kommunikation, neuerdings oft auch aus den sog. sozialen Medien, die wir mehr oder weniger regelmäßig durchklicken. Da wird die Corona-Impfung dann schnell mal zu einer Chip-Einpflanzung von Bill Gates und der menschengemachte Klimawandel zur Spinnerei wissenschaftlicher Eierköpfe. Was bedeutet das für unsere Gesellschaft und ihre Fähigkeit zu zielführenden Problemlösungen z.B. im Nachhaltigkeitskontext?

 

   Mein Urgroßvater war Bauer im Calenberger Land. Er ist zeitlebens kaum aus seinem Dorf herausgekommen. Er wusste viel über sein tägliches Tun, über die Natur und alles, was ihn umgab. Und er konnte vieles von dem selbst erledigen, was für ihn lebensnotwenig war. Als Kind hatte er die einzügige Volksschule besucht, in der alle Dorfkinder gemeinsam von einem Lehrer unterrichtet wurden. Als Erwachsener las er kaum mehr etwas, keine Zeitung, keine Bücher. Radio und Fernsehen waren noch nicht erfunden, Internet sowieso nicht. Heute würde man sagen, seine Bildung war sehr eingeschränkt. Aber er konnte seinen Lebensunterhalt im Rahmen der Dorfgemeinschaft vollständig allein regeln.

   Viele Heutige könnten sich über ihn erheben, weil sie Abitur gemacht haben und weil ihnen unzählige Quellen zur Verfügung stehen, aus denen sie fundiertes Wissen schöpfen können. Einige haben noch ein vielbändiges gedrucktes Lexikon zum Nachschlagen, alle haben Wikipedia und was es sonst noch im Netz gibt. Wir meinen, einen weiten Horizont zu haben, zumal wenn wir die Möglichkeiten des Reisens ausgiebig nutzen, denn Reisen bildet, heißt es. Aber was wissen wir wirklich?

   Wir sind Bürgerinnen und Bürger eines demokratischen Gemeinwesens und zugleich Geschöpfe der Marktwirtschaft. Alle zusammen wissen wir mehr, als für uns und die Welt wirklich gut ist. Im Prinzip steht jedem das gesamte Wissen der Welt zur Verfügung, wenn sie/er sich dafür interessiert, das allermeiste davon sogar kostenlos, weil der Staat und kundige Mitbürger es uns in Bildungseinrichtungen, in Bibliotheken oder im Netz zur Verfügung stellen. Artikel 5 unseres Grundgesetzes garantiert Meinungs-, Presse- und Forschungsfreiheit.

   Aber auch alle diejenigen, die auf ihren Fachgebieten wirklich umfassende Expertise erworben haben, verfügen auf den meistens anderen Gebieten nur über laienhaftes Wissen und Fähigkeiten. Der kundigste Sozialarbeiter kennt sich in wirtschaftlichen Fragen oft wenig aus. Die nobelpreisverdächtige Physikprofessorin kann sich manchmal kaum ein Essen selbst zubereiten, das den Namen verdient, geschweige denn ihre Kartoffeln selbst anbauen. Und weil es in vielen Ländern keine Schulen gibt, die die Kinder dort besuchen können, und weil auch in Ländern mit gutem Schulwesen ein nicht unbedeutender Teil die Schule mit sehr lückenhaften Kenntnissen z.B. in Rechnen, Lesen und Schreiben verlässt, gibt es trotz des ständig wachsenden Wissens der Welt nach wie vor viele Analphabeten und Menschen mit wenig entwickelten Fähigkeiten. Das beeinträchtigt ihre gesellschaftlichen Teilhabemöglichkeiten und ihre beruflichen Perspektiven erheblich.

   Angesichts des Anspruchs demokratischer Gesellschaften, dass alle Bürgerinnen und Bürger an der sozialen und politischen Willensbildung mitwirken sollen, kommt daher den Intermediären große Bedeutung zu, die eine Brücke schlagen können zwischen Fachwelt und Bevölkerung, insbesondere Presse, Funk, Fernsehen. Sie sollen dafür sorgen, dass alle oder zumindest möglichst viele Menschen die notwendigen Grund-Kenntnisse und -Fähigkeiten haben, um ihre Interessen wahrzunehmen, ihre Rechte und Pflichten als Staatsbürger auszuüben, und ihre eigenen Lebensumstände selbständig zu gestalten.

   Hier aber lauert Ungemach. Zum einen können die meisten Journalisten und Medienprofis zwar schreiben und visualisieren, verstehen aber von den Zusammenhängen, über die sie berichten, auch eher wenig. Sie stützen sich notgedrungen auf die Verlautbarungen der Experten, der Firmen oder Vereinigungen, über die sie berichten und übernehmen dabei teilweise, ohne tiefer einzudringen, deren Blickwinkel. Zum anderen – und hier kommt der Markt ins Spiel – müssen sie ihre Beiträge verkaufen und greifen dabei manchmal zu reißerischen Übertreibungen oder wählen Nachrichten nach ihrem Aufmerksamkeitswert aus, nicht nach ihrer Bedeutung. Da wird dann z.B. mehrere Wochen ausführlich über ein Baby berichtet, das in einen tiefen Brunnen gefallen ist, aber nicht über die vielen Menschen, die zeitgleich im Mittelmeer ertrinken.

   Zum dritten sind die Medien selbst Waren, die von Zeitungsverlagen, Rundfunkanstalten und anderen gegen Geld verkauft werden oder staatlich zensiert werden wie z.B. in der Türkei oder in Russland. Das kann zu Rücksichtnahmen und Hofberichterstattung führen, die dem Wahrheitsgehalt der Informationen nicht förderlich sind. Um hier Fehlentwicklungen zu begrenzen, gibt es in Deutschland öffentlich rechtliche Medien, die staats- und marktunabhängig informieren können. Oft finden sich dort jedoch differenzierte Beiträge nur in speziellen Spartensendern (z.B. Arte, 3Sat, Deutschlandfunk) oder sie werden kurz vor Mitternacht gesendet, wenn die meisten Menschen schon schlafen.

   Nicht zuletzt sind insbesondere in den sozialen Medien nicht nur Profis sondern auch jede Menge Laien unterwegs, denen oft erst recht fundierte Kenntnisse fehlen und die vor allem Klicks und Follower rekrutieren wollen: Das geht anscheinend am besten, wenn man möglichst abstruse Thesen verbreitet. Kein geringerer als der vormalige US-Präsident Donald Trump hat das eindrucksvoll bewiesen. Wenn dann noch auf der Empfängerseite eingeschränkt kundige Menschen sitzen, dann verbreiten sich z.B. all die Fake-News in Windeseile, die derzeit in der Coronaleugner-Szene ihr Unwesen treiben. Aus dem Kinderspiel Stille Post wird Lauter Quark. Die differenzierte gesellschaftliche Kommunikation und kenntnisreiche politische Willensbildung bleiben auf der Strecke. Nicht zuletzt werden kübelweise Verleumdungen und Drohungen gegenüber denjenigen verbreitet, die sich ehrlich und offen um den gesellschaftlichen Diskurs bemühen. So entstehen populistische politische Kräfte und Parteien und die, die am lautesten klappern, werden salonfähig und gewählt, von den USA über Brasilien, Großbritannien und Israel bis zum Front National und der AFD.

   Auch im Nachhaltigkeitszusammenhang haben kenntnisreiche Mahner schweres Spiel. Mit den Warnungen vor dem menschengemachten Klimawandel, vor Artensterben, Meeresvermüllung und anderen Folgen unserer nicht-nachhaltigen Wirtschafts- und Lebensweise haben sie kaum Chancen, gehört und verstanden zu werden und mit ihren Vorschlägen zum wirksamen Gegensteuern auf offene Augen und Ohren zu stoßen. Die Strategie, diese Mahnungen in das Kleid der üblich gewordenen sozialen Kommunikation zu stecken, verbietet sich von vornherein. Denn mündige Bürgerinnen und Bürger müssen mit differenzierten Informationen überzeugt werden, wenn sie kundig handeln sollen. Das ist Kärrnerarbeit, aber alternativlos.